Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Mein lieber Schwan
Crankos unvergängliche Choreografie von Tschaikowskys Ballett begeistert in Stuttgart
STUTTGART - „Schwanensee“ist das klassische Ballett schlechthin: Es erzählt die Geschichte vom Prinzen Siegfried, der sich in die verzauberte Schwanenprinzessin Odette verliebt, und vom Zauberer Rotbart, der ihn mit einer Doppelgängerin im schwarzen Federkleid täuscht und den Prinzen schließlich untergehen lässt. Peter Tschaikowsky hat die wunderbare Musik dazu komponiert, Marius Petipa und Lew Iwanow haben 1895 zum Libretto von Tschaikowskys Bruder Modest eine zeitlos gültige Choreografie geschaffen. Am Stuttgarter Staatstheater wurde jetzt die ausdrucksstarke Choreografie von John Cranko aus dem Jahr 1963 mit der prächtigen Ausstattung von Jürgen Rose in neuer Besetzung wieder aufgenommen: Alicia Amatriain und Friedemann Vogel glänzen in den Hauptrollen und erschaffen vor allem im vierten Akt jenen Zauber, der Ballettfans atemlos staunen lässt.
Das Stuttgarter Ballett von Ballettchef Reid Anderson mag zwar auch führend im zeitgenössischen Tanz sein, doch die Traditionen eben mit den Werken von John Cranko werden erhalten und gepflegt, die Stücke frisch aufpoliert. Nicht nur im Gedenkjahr zum 90. Geburtstag, das auch mit anderen Produktionen gefeiert wird. Der Erfolg gibt den Stuttgartern recht, die Nachfrage ist riesig und die Premiere umjubelt.
Das Staatsorchester Stuttgart unter dem Gastdirigenten Kevin Rhodes musiziert farbig in den zahlreichen Charaktertänzen des ersten und dritten Akts, entwickelt Dramatik, wenn der böse Zauberer mit seinem schwarzen Schwanenmädchen erscheint und im vierten Akt die Liebenden auseinanderreißt. Das schicksalsschwere Thema wird immer wieder von der Oboe intoniert, Solovioline und Solocello erzählen von Sehnsucht und Empathie, in den beiden „weißen“Akten mit den Auftritten der Schwäne entfalten die Streicher seidig schimmernden Glanz.
Poesie und Anmut
Und natürlich ist da die Ausstattung von Jürgen Rose mit den warmen Farben der Kostüme, wenn Prinz Siegfried am Tag vor seinem Geburtstag mit der Landjugend feiert oder zum Fest die Hofgesellschaft in Samt und Seide in den zweistöckigen Thronsaal mit Galerie und Treppe einzieht. Wieder ist es ein opulentes Fest fürs Auge, wenn Prinzessinnen aus Spanien, Neapel, Ungarn und Russland mit ihren Begleitern und Nationaltänzen auftreten und sich das Ensemble der 24 Schwanenmädchen im letzten Akt zu einer vielarmigen, mitleidenden oder aufgeregt wirbelnden Einheit verbindet. Poesie, Anmut und Tragik entfalten ihre Sogkraft.
John Cranko verstand es, Geschichten zu erzählen, Menschen aus Fleisch und Blut mit Emotionen auf die Bühne zu bringen. Die erste Solistin Alicia Amatriain erfüllt die Doppelrolle von Odette, dem zarten, scheuen, lieblichen Schwan und Odile, dem schwarzen, koketten, verführerischen Schwan mit Anmut, Temperament und Virtuosität. Immer neu schwingt sie sich im dritten Akt in ihren Pirouetten, Sprüngen und Fouettés auf, um den Prinzen zu täuschen. Hinreißend und voll Trauer aber ist ihr Ausdruck, wenn Odette ihn ein letztes Mal sehen darf.
Ebenso begeistert Friedemann Vogel in der Vielfalt und Virtuosität seiner Körpersprache, wenn er sich vom unbekümmerten jungen Mann in einen verzweifelt Liebenden wandelt: Kraftvolle, raumgreifende Sprünge voller Lebenslust, Innigkeit und Kraft in den Hebungen mit seiner Partnerin und eine über vier intensive Akte gesteigerte Energie zeichnen seinen Tanz aus. Das gesamte Ensemble wird in den Charaktertänzen des ersten und dritten Akts von diesem symbiotisch verschmelzenden Paar angesteckt und beflügelt. Weitere Aufführungen sind teils mit anderen Solisten besetzt, was einmal mehr die Brillanz und Virtuosität des Stuttgarter Balletts unterstreicht.
Es gibt evtl. noch Restkarten für die Vorstellungen am 9., 14., 15., 18., 23., 25. und 30. Dezember. Kartentelefon: (0711) 20 20 90