Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Zukunftsmarkt Medizintechnik
Wirtschaftsforscher stellen Gutachten über Chancen und Risiken im Südwesten vor
STUTTGART - Mögliche US-Handelsschranken könnten einer Studie zufolge ein heftiger Dämpfer für Baden-Württembergs Wirtschaft werden. Auch die Digitalisierung könnte laut einer am Mittwoch in Stuttgart vorgestellten Studie zahlreiche Jobs in der Automobilindustrie kosten. Eine größere Rolle könnte in Zukunft die Medizintechnik spielen.
Im Raum Tuttlingen schlägt das Herz der Medizintechnik. Weltzentrum der Medizintechnik nennt sich die Region stolz. Über 400 Unternehmen beschäftigen dort mehr als 8000 Mitarbeiter. Hinzu kommen Hunderte weitere auf die Medizintechnik spezialisierte Zulieferer und Dienstleister. In Zukunft könnte die Gesundheitswirtschaft im Südwesten sogar noch eine größere Rolle spielen. Darauf hat die baden-württembergische Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) am Mittwoch bei der Vorstellung eines Gutachtens über die Perspektiven des Wirtschaftsstandorts BadenWürttemberg hingewiesen.
Noch dominieren zwar der Maschinenbau und der Automobilbau die Südwestwirtschaft eindeutig. „Die Stärke unserer Kernbranchen ist zugleich unsere Achillesferse“, sagte die CDU-Politikerin. Die Digitalisierung, aber auch der bevorstehende Umbau im Bereich Mobilität brächten außer Chancen auch Unwägbarkeiten mit sich. Die Strategie müsse daher sein, Stärken aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln, zugleich aber neue Wertschöpfungsfelder zu erschließen.
61 000 Jobs in Gefahr
Dafür seien Branchen geeignet, die im Land vorhanden und ausbaufähig seien. Sie denke dabei an die Gesundheitswirtschaft und Medizintechnik, digitale Unternehmensdienstleistungen oder auch an die stärkere wirtschaftliche Nutzung biotechnologischer Forschung und der Lebenswissenschaften.
Aus dem Gutachten, das auch den Ist-Zustand der Wirtschaft im Lande analysierte, will die Wirtschaftsministerin Handlungsleitlinien entwickeln. Im konkreten Fall könnte das beispielsweise das Bemühen sein, noch mehr Medizintechnik-Unternehmen in den Südwesten zu holen und hier langfristig anzusiedeln.
Im Jahr 2014 entfielen hierzulande 580 000 Arbeitsplätze auf den Maschinenund Automobilbau. Im Letzteren waren 240 000 Personen beschäftigt. Im Falle eines Umstiegs auf den Elektroantrieb weise der Südwesten einen großen Anpassungsbedarf auf, sagte der Wirtschaftswissenschaftler Achim Wambach. Rund 61 000 Beschäftigte in der Autoindustrie stellen der Studie zufolge Produkte her, die im Falle des Umstiegs wohl nicht mehr benötigt werden. Für sie müsste man dann andere Beschäftigungsmöglichkeiten suchen.
Wie viele Arbeitsplätze einmal wegfallen, ist noch völlig offen. Wambach, Chef des in Mannheim ansässigen Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), sagte, neue Mobilitätskonzepte böten Chancen für das Land als Leitmarkt. Als Beispiel wurden das autonome Fahren oder die Vernetzung vom öffentlichen und dem Individualverkehr genannt.
Ein Problem hat das Land. 14,5 Prozent aller Arbeitsplätze in der gewerblichen Wirtschaft sind im Bereich des Maschinen- und Automobilbaus zu finden. Bayern weise mit 9,9 Prozent den zweithöchsten Wert unter den deutschen Ländern auf. Zum Vergleich: In Deutschland beträgt die Quote lediglich 7,6 Prozent.
Die Analyse des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) und des ZEW befasste sich auch mit möglichen Folgen des Ausstiegs von Großbritannien aus der Europäischen Union und etwaiger US-Handelsschranken. Beide könnten ein heftiger Dämpfer für Baden-Württembergs Wirtschaft werden. Die Exporte könnten durch solche Entwicklungen künftig jedes Jahr um fünf Prozent sinken und die Realeinkommen um 0,8 Prozent fallen.
„Das hätte große Auswirkungen auch auf die Kaufkraft in Baden-Württemberg.“Baden-Württembergs Agrarministerin Nicole Hoffmeister-Kraut über die Wirkung von US-Handelsschranken und einem harten Brexit
Auswirkungen Handelsschranken
Die Autoren nahmen bei ihrer Berechnung an, dass die USA eine sehr hohe Importabgabe von 35 Prozent berechnen würden. Käme es zudem zu einem harten Brexit, also zu Handelsschranken nach Großbritanniens EU-Austritt, würden die Exporte aus Baden-Württemberg um einen Prozentpunkt fallen, erwarten die Ökonomen, unter ihnen IAW-Direktor Bernhard Boockmann. Das Minus beim Realeinkommen – also der Kaufkraft nach Abzug der Inflation – läge dann bei 0,3 Punkten.
Hoffmeister-Kraut sagte: „Das hätte große Auswirkungen auch auf die Kaufkraft in Baden-Württemberg.“Die Studie verdeutliche, wie dringlich Gespräche auf internationalem Parkett seien, damit die befürchteten Handelsschranken gar nicht erst kämen. Als Konsequenz aus der Studie will die Wirtschaftsministerin auch noch einmal die Fördermittel der Landesregierung genauer anschauen und auch wenn nötig nachjustieren.
„Einen besonderen Fokus werden wir dabei auf die kleineren Unternehmen legen“, sagte sie weiter. Entscheidend sei dabei, Innovationsförderung stärker als bisher auch als Förderung der Start-up-Szene und neuer Geschäftsmodelle zu begreifen. ANZEIGEN