Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Erdogan gibt markigen Mann vom Bosporus
Um Druck auf die EU zu machen, will die Türkei den Flüchtlingspakt untergraben
ISTANBUL (dpa) - Das EU-Parlament empfiehlt das Einfrieren der Beitrittsverhandlungen. Das passt dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan gar nicht. Doch wie glaubhaft sind seine Drohungen? Auch die Türkei muss mit Nachteilen rechnen.
Erdogan kennt die Schwachstelle der EU gut, und er nutzt sie prompt. Auf die Empfehlung des EU-Parlaments, die Beitrittsgespräche einzufrieren, reagiert er mit der Drohung, Flüchtlinge nach Europa zu lassen: „Passt auf, wenn ihr noch weitergeht, dann werden diese Grenzübergänge geöffnet. Lasst euch das gesagt sein.“
Flüchtlinge aus Syrien lässt die Türkei schon lange nicht mehr so einfach ins eigene Land. Grenzen öffnen bedeutet vor allem, nicht mehr genau hinzuschauen, wenn Migranten aus der Türkei mit dem Boot auf eine der griechischen Inseln übersetzen. Damit droht Erdogan, den im März geschlossenen Flüchtlingspakt mit der EU zu untergraben.
Damals wurde quasi ein Tauschhandel vereinbart: Europa darf alle Migranten, die illegal über die Türkei auf die griechischen Inseln kommen, zurückschicken. Im Gegenzug hat die EU unter anderem zugesagt, nach Erfüllung von 72 Kriterien die Visumpflicht für türkische Staatsbürger aufzuheben. Die EU hat sich damit in eine Abhängigkeit begeben, die Ankara zu nutzen weiß. Rund drei Millionen Geflüchtete alleine aus Syrien beherbergt die Türkei. Auch wenn sich davon nicht alle gleich nach Europa aufmachen wollen, weiß Erdogan um den Abschreckungseffekt. Die EU reagierte zunächst dennoch gelassen und sprach von „hypothetischen Szenarien“.
„Macht doch, was ihr wollt“Erdogans demonstrative Haltung, nicht auf die Europäer angewiesen zu sein, macht in der Türkei Eindruck. Die Zeitung „Yeni Safak“, ein Sprachrohr der islamisch-konservativen AKP-Regierung, titelte am Freitag zum Thema EU: „Macht doch, was ihr wollt.“Darunter kam die Aufforderung, den Flüchtlingspakt aufzukündigen.
Immer wieder benutzt die Türkei die Flüchtlinge als Drohung – zuletzt beim Thema Visumfreiheit. Außenminister Cavusolgu mahnte, man werde den Pakt aufkündigen, sollte es keine Fortschritte geben. Kritisch sehen die Europäer vor allem die Terrorgesetze der Türkei. Brüssel verlangt eine Reform, die Türkei weigert sich. Beendet Ankara das Abkommen wirklich, würde der Regierung auch ein Hebel fehlen, um Europa in Zukunft unter Druck zu setzen. Aus Sicht der türkischen Führung hält die EU die Türkei bei den Themen Visumfreiheit und Beitrittsverhandlungen ohnehin schon viel zu lange hin. Die Türkei setzt daher auch auf einen Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zu China und Russland. Doch gerade beim Thema Wirtschaft hat Erdogan viel zu verlieren. Europa ist als wichtiger Handelspartner nicht so einfach zu ersetzen. Zudem stürzt die Türkische Lira ab. Neben dem Einfluss der US-Wahl auf die Währung belastet die politische Unsicherheit seit dem Putschversuch vom 15. Juli die Wirtschaft. Die Türkei geht massiv gegen mutmaßliche Putschisten, aber auch gegen Regierungskritiker vor. Nach Medienangaben sitzen mehr als 36 000 Menschen in Untersuchungshaft. Mehr als 75 000 zivile Staatsbedienstete und Angehörige der Sicherheitskräfte wurden entlassen. Im Zentrum des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei steht ein Tauschhandel. Die EU darf demnach alle Schutzsuchenden, die seit dem 20. März illegal auf die griechischen Inseln übergesetzt sind, in die Türkei zurückschicken. Ausgenommen sind Asylbewerber, die nachweisen können, dass sie in der Türkei verfolgt werden. Für jeden zurückgeschickten Syrer darf seit dem 4. April ein anderer Syrer aus der Türkei legal und direkt in die EU einreisen. Die EU hat sich bereit erklärt, über diesen Mechanismus bis zu 72 000 Syrer aufzunehmen. Sie hat außerdem drei Milliarden Euro bereitgestellt, damit die Türkei die Lebensbedingungen von Syrern verbessert. Weitere drei Milliarden Euro hat die EU in Aussicht gestellt. Bislang wurden lediglich etwa 720 Menschen wieder in die Türkei zurückgebracht.(dpa)