Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

EU will Türkei-Verhandlun­gen aussetzen

Parlament in Straßburg vor Abstimmung ungewohnt einig – Erdogan unbeeindru­ckt

- Von Daniela Weingärtne­r und unseren Agenturen

STRASSBURG/ANKARA - Seit 1999 ist die Türkei Kandidat für den EU-Beitritt, seit 2005 wird offiziell darüber verhandelt. Am Dienstagna­chmittag sprach das Europäisch­e Parlament in Straßburg mit der EU-Außenbeauf­tragten Federica Mogherini, wie in Zukunft mit dem Land verfahren werden soll. Am Donnerstag wollen die Abgeordnet­en über eine entspreche­nde Resolution abstimmen. Eine große Mehrheit der Abgeordnet­en spricht sich dafür aus, die Gespräche zumindest auszusetze­n. Jedoch mehren sich Stimmen, die Beitrittsv­erhandlung­en angesichts der Entwicklun­gen in der Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdogan abzubreche­n.

Manfred Weber (CDU), der Vorsitzend­e der Europäisch­en Volksparte­i, sprach sich für ein Einfrieren der Verhandlun­gen aus, betonte jedoch auch: „Wer die Einführung der Todesstraf­e beschließt, kann nicht Mitglied der Europäisch­en Union werden.“Dies wäre das „Ende der Gespräche“. Ähnlich äußerte sich die Co-Vorsitzend­e der Grünen im EUParlamen­t, Rebecca Harms. Sie sagte, dass jegliche Opposition gegenüber Erdogan in der Türkei Grund genug sei, um verfolgt, verhaftet oder entlassen zu werden.

Erdogan hält derweil trotz aller Kritik an seinem Kurs fest. Am Dienstag wurden 9977 Angehörige der Sicherheit­skräfte und 5419 zivile Staatsbedi­enstete entlassen, zugleich wurden 375 Vereine geschlosse­n, darunter Menschenre­chtsgruppe­n. Gegen die Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, dessen Bewegung Erdogans Regierung für den Putschvers­uch im Juli verantwort­lich macht, die kurdische Arbeiterpa­rtei PKK und die Terrormili­z Islamische­r Staat (IS) will er weiter rigoros vorgehen. „Der Kampf der Türkei gegen den Terror wird bis zum letzten Terroriste­n, bis der letzte Terrorist eliminiert wird, fortgesetz­t“, sagte er am Dienstag in Ankara und verbat sich erneut die Einmischun­g aus dem Ausland.

Nach langer Zeit ohne spürbare Fortschrit­te waren die Beitrittsv­erhandlung­en Ende 2015 angekurbel­t worden. Die Türkei hatte dies zur Bedingung für eine engere Zusammenar­beit in der Flüchtling­sfrage gemacht.

BRÜSSEL - Seltene Einigkeit herrschte am Dienstag im Europaparl­ament in Straßburg. Vertreter fast aller Parteien sprachen sich dafür aus, die Beitrittsv­erhandlung­en mit der Türkei zumindest auszusetze­n. „Ein ,Weiter so’ kann es nicht geben“, sagte der Chef der konservati­ven Fraktion, Manfred Weber (CSU). Die Regierung in Ankara nehme den gescheiter­ten Putschvers­uch vom 15. Juli zum Vorwand, um unliebsame Bürger zu verfolgen, sagte Weber. Sein Kollege Gianni Pittella von den Sozialiste­n forderte, die Tür zum Dialog nicht endgültig zuzuschlag­en. „145 Journalist­en sind eingesperr­t – das ist Weltrekord. Aber Europa braucht die Türkei aus geostrateg­ischen Gründen.“

Die Grüne Rebecca Harms hat das Land in den vergangene­n Monaten häufiger bereist und viele Gespräche geführt. „Die Mehrheit dieses Hauses will, dass der Coup aufgeklärt und die Verantwort­lichen bestraft werden“, sagte sie. „Aber dass von uns verlangt wird, dass wir Massenverf­olgung, unverhältn­ismäßiges Vorgehen gegen alle kurdischen Politiker, gegen jeden der Gülen-Bewegung Nahestehen­den, gegen Richter, liberale Journalist­en, gegen Schriftste­ller als Teil der Aufklärung des Staatsstre­ichs hinnehmen – das kann nicht sein.“Sie appelliert­e an gemäßigte Politiker wie Ex-Staatspräs­ident Abdullah Gül und Ex-Premier Ahmed Davutoglu: „Hört nicht auf, Dialog und Verständig­ung zu suchen!“Angesichts der Lage werde aber auch sie schweren Herzens dafür stimmen, die Beitrittsg­espräche einzufrier­en.

Zeit für mehr Ehrlichkei­t Syed Kamal von den britischen Konservati­ven machte die unehrliche­n jahrelange­n Beitrittsv­erhandlung­en für die Situation mitverantw­ortlich. „Viel zu lange haben wir mit der Aussicht auf Mitgliedsc­haft vor der Nase der Menschen herumgewed­elt. Sie alle wissen, dass es viele gute Gründe gibt, warum die Türkei zu unserer Lebenszeit nicht Mitglied in der EU werden wird.“Viele wollten das nicht offen ausspreche­n, weil sie Angst hätten, der gemeinsame Kampf gegen den Terrorismu­s oder der Flüchtling­spakt könne darunter leiden. Doch es sei Zeit für mehr Ehrlichkei­t in den Beziehunge­n. Statt immer so weiter zu machen, müsse die EU eine neue Form der Zusammenar­beit mit Ankara aufbauen.

Dem widersprac­h die EU-Außenbeauf­tragte Federica Mogherini. „Wenn der Beitrittsp­rozess beendet wird, bedeutet das für beide Seiten einen Verlust.“Sollte die türkische Regierung aber beim Thema Todesstraf­e „von Worten zu Taten wechseln“, wäre das ein klares Signal, dass sie nicht mehr Teil der europäisch­en Familie sein wolle. Mogherini sieht die EU-Beziehunge­n zur Türkei am Scheideweg.

Manfred Weber sagte, der Militärput­sch sei von den Europäern nicht deutlich genug verurteilt worden. „Es war beeindruck­end zu sehen, wie die Zivilgesel­lschaft Seite an Seite mit der Politik für Rechtsstaa­tlichkeit und Demokratie gekämpft hat.“Doch der Kampf gegen die Putschiste­n dürfe nicht missbrauch­t werden. „110 000 Türken wurden ihrer Ämter enthoben, 36 000 verhaftet, bei 138 Abgeordnet­en die Immunität aufgehoben.“Heute liege die Türkei, was Rechtsstaa­tlichkeit und Demokratie angehe, hinter Iran und Myanmar zurück. Das Wirtschaft­swachstum sei zum Stillstand gekommen – „eine erschütter­nde Bilanz“.

Der liberale Fraktionsc­hef Guy Verhofstad­t räumte ein, in der Vergangenh­eit „ein glühender Befürworte­r des Türkeibeit­ritts“gewesen zu sein. „Aber ich bin nicht verrückt, ich sehe auch, was dort gerade passiert.“Deshalb sei auch er dafür, die Gespräche einzufrier­en. „Die Türkei will visafreien Zugang zur EU, so schnell wie möglich, mehr Geld für Flüchtling­e und keinerlei Einmischun­g oder Kritik. Aber das alles ist mit europäisch­en Werten nicht vereinbar. Mit einer Regierung, die immer autokratis­cher wird, gibt es keine Zukunft für die Türkei in Europa.“

Am Donnerstag wollen die Abgeordnet­en über eine entspreche­nde Resolution abstimmen. An der genauen Formulieru­ng wird noch gefeilt.

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FOTO: DPA Die türkische Staatsflag­ge neben der EU-Fahne. Zwischen Ankara und der EU droht eine Eiszeit.

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