Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
EU will Türkei-Verhandlungen aussetzen
Parlament in Straßburg vor Abstimmung ungewohnt einig – Erdogan unbeeindruckt
STRASSBURG/ANKARA - Seit 1999 ist die Türkei Kandidat für den EU-Beitritt, seit 2005 wird offiziell darüber verhandelt. Am Dienstagnachmittag sprach das Europäische Parlament in Straßburg mit der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini, wie in Zukunft mit dem Land verfahren werden soll. Am Donnerstag wollen die Abgeordneten über eine entsprechende Resolution abstimmen. Eine große Mehrheit der Abgeordneten spricht sich dafür aus, die Gespräche zumindest auszusetzen. Jedoch mehren sich Stimmen, die Beitrittsverhandlungen angesichts der Entwicklungen in der Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdogan abzubrechen.
Manfred Weber (CDU), der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei, sprach sich für ein Einfrieren der Verhandlungen aus, betonte jedoch auch: „Wer die Einführung der Todesstrafe beschließt, kann nicht Mitglied der Europäischen Union werden.“Dies wäre das „Ende der Gespräche“. Ähnlich äußerte sich die Co-Vorsitzende der Grünen im EUParlament, Rebecca Harms. Sie sagte, dass jegliche Opposition gegenüber Erdogan in der Türkei Grund genug sei, um verfolgt, verhaftet oder entlassen zu werden.
Erdogan hält derweil trotz aller Kritik an seinem Kurs fest. Am Dienstag wurden 9977 Angehörige der Sicherheitskräfte und 5419 zivile Staatsbedienstete entlassen, zugleich wurden 375 Vereine geschlossen, darunter Menschenrechtsgruppen. Gegen die Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, dessen Bewegung Erdogans Regierung für den Putschversuch im Juli verantwortlich macht, die kurdische Arbeiterpartei PKK und die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) will er weiter rigoros vorgehen. „Der Kampf der Türkei gegen den Terror wird bis zum letzten Terroristen, bis der letzte Terrorist eliminiert wird, fortgesetzt“, sagte er am Dienstag in Ankara und verbat sich erneut die Einmischung aus dem Ausland.
Nach langer Zeit ohne spürbare Fortschritte waren die Beitrittsverhandlungen Ende 2015 angekurbelt worden. Die Türkei hatte dies zur Bedingung für eine engere Zusammenarbeit in der Flüchtlingsfrage gemacht.
BRÜSSEL - Seltene Einigkeit herrschte am Dienstag im Europaparlament in Straßburg. Vertreter fast aller Parteien sprachen sich dafür aus, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zumindest auszusetzen. „Ein ,Weiter so’ kann es nicht geben“, sagte der Chef der konservativen Fraktion, Manfred Weber (CSU). Die Regierung in Ankara nehme den gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli zum Vorwand, um unliebsame Bürger zu verfolgen, sagte Weber. Sein Kollege Gianni Pittella von den Sozialisten forderte, die Tür zum Dialog nicht endgültig zuzuschlagen. „145 Journalisten sind eingesperrt – das ist Weltrekord. Aber Europa braucht die Türkei aus geostrategischen Gründen.“
Die Grüne Rebecca Harms hat das Land in den vergangenen Monaten häufiger bereist und viele Gespräche geführt. „Die Mehrheit dieses Hauses will, dass der Coup aufgeklärt und die Verantwortlichen bestraft werden“, sagte sie. „Aber dass von uns verlangt wird, dass wir Massenverfolgung, unverhältnismäßiges Vorgehen gegen alle kurdischen Politiker, gegen jeden der Gülen-Bewegung Nahestehenden, gegen Richter, liberale Journalisten, gegen Schriftsteller als Teil der Aufklärung des Staatsstreichs hinnehmen – das kann nicht sein.“Sie appellierte an gemäßigte Politiker wie Ex-Staatspräsident Abdullah Gül und Ex-Premier Ahmed Davutoglu: „Hört nicht auf, Dialog und Verständigung zu suchen!“Angesichts der Lage werde aber auch sie schweren Herzens dafür stimmen, die Beitrittsgespräche einzufrieren.
Zeit für mehr Ehrlichkeit Syed Kamal von den britischen Konservativen machte die unehrlichen jahrelangen Beitrittsverhandlungen für die Situation mitverantwortlich. „Viel zu lange haben wir mit der Aussicht auf Mitgliedschaft vor der Nase der Menschen herumgewedelt. Sie alle wissen, dass es viele gute Gründe gibt, warum die Türkei zu unserer Lebenszeit nicht Mitglied in der EU werden wird.“Viele wollten das nicht offen aussprechen, weil sie Angst hätten, der gemeinsame Kampf gegen den Terrorismus oder der Flüchtlingspakt könne darunter leiden. Doch es sei Zeit für mehr Ehrlichkeit in den Beziehungen. Statt immer so weiter zu machen, müsse die EU eine neue Form der Zusammenarbeit mit Ankara aufbauen.
Dem widersprach die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini. „Wenn der Beitrittsprozess beendet wird, bedeutet das für beide Seiten einen Verlust.“Sollte die türkische Regierung aber beim Thema Todesstrafe „von Worten zu Taten wechseln“, wäre das ein klares Signal, dass sie nicht mehr Teil der europäischen Familie sein wolle. Mogherini sieht die EU-Beziehungen zur Türkei am Scheideweg.
Manfred Weber sagte, der Militärputsch sei von den Europäern nicht deutlich genug verurteilt worden. „Es war beeindruckend zu sehen, wie die Zivilgesellschaft Seite an Seite mit der Politik für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gekämpft hat.“Doch der Kampf gegen die Putschisten dürfe nicht missbraucht werden. „110 000 Türken wurden ihrer Ämter enthoben, 36 000 verhaftet, bei 138 Abgeordneten die Immunität aufgehoben.“Heute liege die Türkei, was Rechtsstaatlichkeit und Demokratie angehe, hinter Iran und Myanmar zurück. Das Wirtschaftswachstum sei zum Stillstand gekommen – „eine erschütternde Bilanz“.
Der liberale Fraktionschef Guy Verhofstadt räumte ein, in der Vergangenheit „ein glühender Befürworter des Türkeibeitritts“gewesen zu sein. „Aber ich bin nicht verrückt, ich sehe auch, was dort gerade passiert.“Deshalb sei auch er dafür, die Gespräche einzufrieren. „Die Türkei will visafreien Zugang zur EU, so schnell wie möglich, mehr Geld für Flüchtlinge und keinerlei Einmischung oder Kritik. Aber das alles ist mit europäischen Werten nicht vereinbar. Mit einer Regierung, die immer autokratischer wird, gibt es keine Zukunft für die Türkei in Europa.“
Am Donnerstag wollen die Abgeordneten über eine entsprechende Resolution abstimmen. An der genauen Formulierung wird noch gefeilt.