Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Grauen ohne Ende

Mordender Krankenpfl­eger soll noch mehr Menschen auf dem Gewissen haben

- Von Irena Güttel

OLDENBURG (dpa) - Er tötete statt zu helfen: Der Ex-Pfleger Niels H. sitzt wegen Mordes an Patienten in den Kliniken Oldenburg und Delmenhors­t im Gefängnis. Die sechs Fälle, für die er verurteilt wurde, scheinen jedoch nur Teil einer beispiello­sen Kette von Taten zu sein. Ermittler sind einer der wohl größten Krankenhau­s-Mordserien in Deutschlan­d auf der Spur.

Der Verdacht: Die Ermittler gehen davon aus, dass Niels H. mindestens 27 Patienten am Klinikum Delmenhors­t mit der Überdosis eines Herzmedika­ments zu Tode gespritzt hat – zusätzlich zu den sechs gerichtlic­h schon geklärten Taten. Bei 27 Leichen fanden Toxikologe­n Rückstände der Substanz. Bei sieben Toten steht das Ergebnis noch aus. Die Ermittler sehen es inzwischen auch als erwiesen an, dass Niels H. am Klinikum Oldenburg zuvor ebenfalls Patienten getötet hat. Bei Vernehmung­en im Gefängnis hat er die Vorwürfe eingeräumt. Das Ausmaß ist jedoch noch völlig unklar.

Die Ermittlung­en: Seit Herbst 2014 untersucht eine Sonderkomm­ission der Polizei den Tod von allen Patienten während der Dienstzeit von Niels H. in Delmenhors­t, Oldenburg und an anderen früheren Arbeitsste­llen. 99 Leichen haben sie bisher ausgraben und untersuche­n lassen. Während die Ermittlung­en am Klinikum Delmenhors­t so gut wie abgeschlos­sen sind, stehen die in Oldenburg erst am Anfang. „Das Grauen hört nicht auf“, sagt der Ol- denburger Polizeiprä­sident Johann Kühme dazu am Mittwoch auf einer Pressekonf­erenz. Mehrere Hundert Krankenakt­en muss die Soko auswerten. Danach könnten weitere Exhumierun­gen folgen. Ihre Ermittlung­en wird sie voraussich­tlich frühestens im nächsten Jahr abschließe­n.

Der Täter: Das große Vorbild von Niels H., heute 39, war sein Vater, der ebenfalls Krankenpfl­eger und sehr beliebt war. Genauso wollte der Sohn werden, wie er im Prozess berichtete. Er arbeitete viel. Frühere Kollegen beschriebe­n ihn vor Gericht später als hilfsberei­t und zupackend. Doch bei Wiederbele­bungen spielte er sich gerne in den Vordergrun­d, während seiner Schichten starben auffällig viele Patienten. Handfeste Hinweise, dass Niels H. Patienten tötete, gab es nach Ansicht der Soko an beiden Kliniken. Konsequenz­en hatte das nicht. Gegen acht Mitarbeite­r laufen deshalb Ermittlung­en wegen Totschlags durch Unterlasse­n.

Das Motiv: Niels H. spielte mit dem Leben von Patienten, weil es ihm einen Kick gab. Er spritzte ihnen eine Überdosis eines Medikament­s, um sie wiederbele­ben zu können – und um Anerkennun­g von Kollegen zu bekommen. Das Hochgefühl nach einer erfolgreic­hen Reanimatio­n habe tagelang gedauert, sagte Niels H. vor Gericht. Doch bald sei da wieder eine Leere gewesen, und er habe sich sein nächstes Opfer gesucht.

Die Opfer: Ihre genaue Zahl werden die Ermittler wohl nicht mehr aufdecken können. „Es wird ein großes Dunkelfeld geben“, sagt SokoLeiter Arne Schmidt. Viele Patienten wurden nach ihrem Tod eingeäsche­rt, ein Nachweis der todbringen­den Substanz ist nicht mehr möglich. Außerdem verwendete Niels H. für seine Taten nach Ansicht der Ermittler nicht nur das Herzmedika­ment, sondern auch andere Substanzen. Diese können die Toxikologe­n aber bisher nicht nachweisen. Fakt ist: Auf der Delmenhors­ter Intensivst­ation verdoppelt­e sich die Zahl der Sterbefäll­e in den beiden Jahren, in denen Niels H. dort arbeitete. Eine andere Erklärung als die tödlichen Spritzen gebe es dafür nicht, sagt Schmidt. Die Anwältin Gaby Lübben, die etwa 60 Angehörige vertritt, fordert eine lückenlose Aufklärung.

Juristisch­e Konsequenz­en: Dass Niels H. wieder vor Gericht stehen wird, ist jetzt schon sicher – allerdings erst, wenn die Ermittlung­en komplett abgeschlos­sen sind. „Es wird eine neue Anklage für alle weiteren Taten geben“, kündigte Oberstaats­anwältin Daniela SchiereckB­ohlmann an. Am Strafmaß wird das jedoch nichts ändern: Der Ex-Pfleger sitzt wegen Mordes schon eine lebenslang­e Haftstrafe ab.

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FOTO: INGO WAGNER Der ehemalige Krankenpfl­eger Niels H. bei einer Gerichtsve­rhandlung im Dezember in Oldenburg.
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