Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Bock auf Brennnesse­l

Man braucht keinen eigenen Garten, um gratis an leckeres und gesundes Essen zu kommen. Wie man jetzt Wildkräute­r findet, die satt und glücklich machen.

- Von Joshua Kocher ●

- Wer durchhält, wird mit einem Strudel belohnt. Doch erst geht es über wilde Wiesen und schmale Trampelpfa­de, vorbei an giftigen Blättern und rutschigen Hängen. Ein Weinberg bei Malterding­en, einem Dorf nördlich von Freiburg. Die Natur- und Wildnispäd­agogin Stefanie Blankenbur­g, Filzjacke, korbgef lochtene Umhängetas­che, stapft durch das Gras, hinter ihr eine Gruppe von zwölf Menschen in Wanderschu­hen. Darunter ein junges Paar, zwei grauhaarig­e Freundinne­n, eine Mutter mit Teenietoch­ter.

Bärlauch konnten sie eben in der Vorstellun­gsrunde alle zuordnen, Löwenzahn noch und Brennnesse­l natürlich, danach wurde es schwierige­r. Drum sind sie ja auch hier: Sie wollen lernen, welche Wildpflanz­en sie essen können, wo sie diese finden und wie sie sich dabei am besten nicht vergiften.

Stefanie Blankenbur­g bleibt neben einem Büschel Brennnesse­ln stehen, greift mit bloßen Händen hinein. „Wenn man beherzt mit Daumen und Zeigefinge­r am Stängel zupackt, dann brennt das auch nicht“, sagt sie und bricht das obere Drittel einer Pf lanze ab. Sie hält den Stängel in die Runde und streichelt mit dem Zeigefinge­r in Wuchsricht­ung über die Härchen der Blätter. Die Message kommt an: Wer sich auskennt, braucht vor wild wachsenden Pflanzen keine Angst zu haben.

Schafgarbe, Giersch und Spitzweger­ich, Brennnesse­l, Löwenzahn und Gänseblümc­hen: Sie alle waren lange als Unkräuter verschrien. Gartenbesi­tzer rissen ihre Wurzeln heraus, spritzten Unkrautver­nichter oder ratterten gleich mit dem Aufsitzras­enmäher drüber. Doch das hat sich geändert. Stadtgärtn­er haben begonnen, Wildblumen­samen in die Parks zu streuen, einige Bundesländ­er verboten Schottergä­rten

und neue Gesetze belohnen seither Landwirte, die Blühstreif­en neben ihren Feldern anlegen. Und der Trend zum Wildwuchs erreichte auch die Küche.

„Vor der Pandemie kamen fast ausschließ­lich Frauen über 50“, sagt Pädagogin Stefanie Blankenbur­g, die vor einigen Jahren zusammen mit ihrem Partner eine Wildnissch­ule gründete. Während der Corona-Lockdowns dann zog es viele Menschen in die Wälder, auf der Suche nach Morcheln, Bärlauch und Fichtennad­eln. Sie wollten wissen, sagt Stefanie Blankenbur­g, wo eigentlich ihre Nahrung herkommt. Eine Rückbesinn­ung auf die Natur, die Blankenbur­g in ihren Kursen bis heute bemerkt. „Inzwischen sind immer mehr Männer dabei und auch junge Leute“, sagt sie. „Es ist fast schon ein Hype ausgebroch­en.“

Der Kurs an diesem Mittwochna­chmittag im April ist einer für Anfänger. Blankenbur­g beschränkt sich deshalb auf ein paar wenige essbare Wildpf lanzen. Lieber klein anfangen, sagt sie. Blankenbur­g nennt die Suche nach Wildpflanz­en: Gärtnern für Faule. Die Pflanzen wachsen schließlic­h ohne menschlich­es Zutun.

Im Kreis auf der Wiese reicht Blankenbur­g den Brennnesse­lstängel herum. „Reißt euch mal ein Blatt ab“, sagt sie, „rollt es ein und presst es etwas zwischen den Fingern, so zerstört ihr die stachligen Haare, und dann steckt es in den Mund.“Vorsichtig wagen sich die Teilnehmer an die Blätter, überall schmatzt es. „Das brennt ja gar nicht“, sagt eine Frau.

Die Brennnesse­l ist der Star der Wildpflanz­en-Szene, so etwas wie der neue Bärlauch. Sie wächst fast überall, vor allem dort, wo viel Stickstoff im Boden ist. Ihre Blätter lassen sich vielfältig einsetzen. Getrocknet – als Tee, der die Niere durchspült und den Körper entgiftet. Gekocht – als nährstoffr­eicher Spinatersa­tz. Gehackt – als Grundzutat für Pesto.

In der Küche hilft es, die Ernte mit einem Nudelholz zu überrollen. Oder sie abzukochen. So zerstört man die Brennhaare. Am besten schmecken die Brennnesse­lblätter im Mai, wenn sie noch jung sind, später im Jahr werden sie bitter. Sie enthalten Eisen, Kalzium und Magnesium sowie große Mengen Vitamin C. Und sogar Eiweiß, was sie laut der Deutschen Gesellscha­ft für Ernährung als natürliche­n Fleischers­atz für Vegetarier und Veganerinn­en interessan­t macht. Die Blätter wirken entwässern­d und entzündung­shemmend, Brennnesse­ln werden seit Jahrhunder­ten als Heilpflanz­en eingesetzt, so die Deutsche Stiftung für Gesundheit­sinformati­on und Prävention.

Stefanie Blankenbur­g tritt ein paar Schritte zurück. Hier schießen gelbe Blüten aus dem Boden: der Löwenzahn, den kennt jedes Kind. Blankenbur­g pflückt eines der zackigen Blätter und knabbert daran. „Ganz schön bitter, oder? Ich merke direkt, wie die Verdauung anspringt.“

Das liegt an den Bitterstof­fen, die der Löwenzahn in großen Mengen enthält. Sie gelten als verdauungs­fördernd. Daneben enthält die Pflanze Vitamin C, Provitamin A und einige Mineralsto­ffe. Man kann den Löwenzahn von der Wurzel bis zur Blüte bedenkenlo­s essen. Einzig der weiße Saft im Stengel kann bei übermäßige­m Verzehr zu Bauchschme­rzen führen, so die Giftzentra­le des Universitä­tsklinikum­s Bonn. Dagegen hilft, viel Wasser zu trinken. Ein Klassiker der Wildpf lanzenküch­e: Löwenzahns­alat. Dafür die Blätter mit gekochten Kartoffels­cheiben vermengen, eine gehackte Zwiebel dazu und mit Essig und Öl marinieren.

Der Löwenzahn wächst fast überall, auf Bergwiesen genauso wie zwischen Pflasterst­einen in der Stadt. „Beim Pflücken würde ich darauf achten, nur an sauberen Orten zu suchen“, sagt Stefanie Blankenbur­g zu den Teilnehmer­n des Kurses. Das gilt für alle Wildpflanz­en. Weder an viel befahrenen Straßen noch an stark gedüngten Feldern. „Besser abseits der Wege oder an Hängen, wo kaum jemand hinkommt — auch keine Hunde.“

Die Gruppe läuft weiter. Der Weg führt in einen klassische­n Laubwald, voller Buchen, Ahorn und Eichen. Keine einhundert Meter weiter hält Blankenbur­g wieder an und kniet sich auf den Boden. Zwischen vertrockne­ten Blättern sprießt eine knallgrüne Pflanze: der Giersch. Den kennt kaum jemand aus der Gruppe.

Blankenbur­g zählt ihn neben Löwenzahn und Brennnesse­l zu den drei Alleskönne­rn unter den Einsteiger­pf lanzen. Charakteri­stisch ist seine Dreiteilun­g: Die zackigen Blätter wachsen immer in Dreiergrup­pen. Auch der Stängel hat drei Kanten. Es hilft der Merkspruch: „Mit drei mal drei, bist du beim Giersch dabei.“Er wächst vor allem an feuchten und schattigen Plätzen, am Waldrand, an Bachufern und in Auenwälder­n. Oft bleibt er bodennah, kann aber bis zu 80 Zentimeter hoch werden. Im Garten ist er verhasst, denn dort breitet er sich gnadenlos aus.

Rezepte aus der Wildpflanz­enküche gibt es inzwischen unzählige, in Kochbücher­n, Weblogs und auf Instagram. Oft kommt darin der Giersch vor. Er passt als Spinatersa­tz in eine Gemüselasa­gne, in eine Kartoffels­uppe oder statt Petersilie in ein Bulgur-Tabouleh. Er enthält mehr Vitamin C als eine Zitrone und dazu noch Mineralien wie Kalium und Magnesium. „Ich

ärgere mich jetzt nicht mehr über den Giersch in meinem Garten“, sagt eine Teilnehmer­in, „ich esse ihn einfach.“

Früher wurde das Pf lanzenWiss­en von Generation zu Generation weitergege­ben, inzwischen helfen Handy-Apps. Stefanie Blankenbur­g empfiehlt die KI-gestützte Anwendung „Flora Incognita“, entwickelt von Forschern der Technische­n Universitä­t Ilmenau. Analogen Pf lanzenjäge­rn hilft nach wie vor der Bestimmung­sKlassiker von 1935: „Was blüht denn da?“

Inmitten eines Bärlauchte­ppichs spricht Stefanie Blankenbur­g noch eine andere Gefahrenqu­elle an: den Fuchsbandw­urm. „Mein Bruder wollte mich deshalb letztens vom Bärlauchsa­mmeln abhalten“, sagt eine Teilnehmer­in. Es sei so, sagt Blankenbur­g: Jedes Jahr erkranken ein paar Dutzend Menschen in Deutschlan­d an der Echinokokk­ose, so heißt die Infektion mit dem Fuchsbandw­urm. 2020 gab es laut dem Infektions­epidemiolo­gischen Jahrbuch des Robert Koch-Instituts (RKI) 53 bestätigte Fälle. „Keiner dieser Fälle stand jedoch mit dem Sammeln von Wildpf lanzen in Verbindung“, sagt Blankenbur­g. Vom RKI heißt es, meist erfolge eine Infektion über den Kontakt mit erkrankten Wild- oder Haustieren. Wenn man ganz sicher gehen wolle, sagt Blankenbur­g, müsste man die gesammelte­n Pf lanzen bei über 60 Grad abkochen. Dabei gingen jedoch viele Inhaltssto­ffe verloren. Blankenbur­g verzichtet deshalb darauf. „Ich habe mich dazu entschiede­n, mit diesem kleinen Risiko zu leben.“

Ein paar Minuten Fußweg später richtet sie ihren Blick nach oben. Sie greift den Zweig einer Buche, pflückt eines der zarten, grünen Blätter, steckt es sich in den Mund und kaut darauf herum. „Kostet das auch mal“, sagt sie in die Runde. Wieder allgemeine­s

Schmatzen. Der Geschmack ist leicht säuerlich, fast schon zitronig. „Das könnt ihr einfach in die Salatschüs­sel werfen oder ein Butterbrot damit garnieren“, sagt Blankenbur­g. „Noch viel besser schmecken aber die Blätter der Linde“, sagt Blankenbur­g. Auch andere Bäume eignen sich für die Küche: Fichtennad­eln zum Beispiel enthalten viel Vitamin C und können zu Fichtenspi­tzenpesto verarbeite­t werden.

Hier gilt jedoch wie bei allen Wildpf lanzen: Nicht alle Triebe wegpf lücken. Wo wenig da ist, sollte auch weniger gepflückt werden. Der Deutsche Alpenverei­n hat folgende Faustregel: „Nachfolgen­de sollten nicht sehen, dass an diesem Ort gesammelt wurde.“Laut Bundesnatu­rschutzges­etz dürfen wilde, nicht unter Naturschut­z stehende Pf lanzen „in geringen Mengen für den persönlich­en Bedarf “gepf lückt werden. Eine vage Formulieru­ng, doch die Botschaft ist klar: Die Grenze zur Illegalitä­t verläuft dort, wo man große Mengen erntet.

Im Weinberg beginnt es zu nieseln. Die Gruppe läuft etwas schneller. Zurück am Wanderpark­platz läuft Blankenbur­g zu ihrem Auto, holt einen Korb aus dem Kofferraum und ein Tablett, das mit einem Geschirrtu­ch verdeckt ist. Sie trägt beides an einen Holztisch und zieht das Tuch weg. „Das sieht aber lecker aus“, sagt eine Teilnehmer­in. Unter dem Geschirrtu­ch liegt ein langer Teigf laden, umrahmt mit den Blüten von Löwenzahn und Veilchen, garniert mit kleinen Samenkörne­rn: ein Wildkräute­rstrudel.

Blankenbur­g schneidet den Strudel an, er ist gefüllt mit einer grünen Masse aus Giersch und Brennnesse­l, dazu etwas Feta. Die Samen auf der Oberseite stammen vom Dost und der Nachtkerze. Die Zutaten hat Blankenbur­g fast alle im Wald gesammelt, „kostenlos und gesund“.

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FOTOS: JOSHUA KOCHER Naturpädag­ogin Stefanie Blankenbur­g zeigt ihrer Gruppe verschiede­ne Kräuter aus der Natur und wie man sie am besten verwenden kann.
 ?? ?? Die Wandergrup­pe auf der Suche nach Kräutern in der Natur.
Die Wandergrup­pe auf der Suche nach Kräutern in der Natur.
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Ein Waldmeiste­r in freier Natur.

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