Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Wenn die Patienten ausbleiben
Wie Ergotherapeuten und Physiotherapeuten die Corona-Krise erleben
LEUTKIRCH/REGION - Ob Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden oder Podologen – unter den Heilmittelerbringern wächst die Zukunftsangst. Grund ist, dass wegen der Corona-Krise immer mehr Patienten ihre Behandlungstermine absagen. Manche Praxisinhaber und deren Angestellte bringt das an den Rand des wirtschaftlichen Ruins. Sollten die Praxen aus finanziellen Gründen schließen müssen, werde das im Kreis Ravensburg mit seinen vielen Behinderteneinrichtungen auf Dauer massive Versorgungsprobleme bringen, was am Ende allen Patienten schade, weil es Heilungsprozesse verzögert oder unmöglich macht, meint Andrea Schaefer, die eine Praxis für Ergotherapie in Leutkirch betreibt.
Die selbstständige Ergotherapeutin hat sich an die „Schwäbische Zeitung“gewandt, weil sie nicht mehr recht weiter weiß. Seit 2004 betreibt sie eine Praxis mit drei Angestellten in Leutkirch. „Ich stehe für eine Berufsgruppe im Gesundheitswesen, die in diesen Tagen durch alle Raster der finanziellen Unterstützung fällt“, meint Schaefer. Das Problem betreffe nicht nur Ergotherapeuten, sondern auch Physiotherapeuten, Logopäden oder Podologen. „Die Angst der Menschen hält die Patienten von unseren Praxen fern. Wir sind da, bereit zu arbeiten und stehen trotzdem vor dem Ruin“, so Schaefer.
Da sie in den vergangenen Jahren keine großen Rücklagen bilden konnte, bedeute die jetzige Situation möglicherweise bald das Aus für sie und ihre Angestellten, für die sie jetzt Kurzarbeit beantragt hat, da von normalerweise 100 Patienten wöchentlich nur noch zehn kommen. Sie selbst will eine Soforthilfe in Höhe von 9000 Euro beantragen. Schaefer schätzt jedoch, dass sie höchstens drei Monate lang so weitermachen kann. Wenn es nicht auch eine Hilfe der gesetzlichen Krankenkassen gibt. Die Heilmittelbereiche Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie und Podologie leiden laut dem Spitzenverband der Heilmittelverbände (SHV) seit Jahren unter sehr geringen Vergütungssätzen. „Und bei den derzeitigen Umsatzrückgängen um 60 bis 90 Prozent sind die finanziellen Rücklagen dann schnell aufgebraucht, wenn es sie überhaupt gibt“, meint Verbandssprecherin Ute Repschläger.
Grund für die Umsatzrückgänge sei einerseits, dass zahlreiche Patienten aus Angst vor Ansteckung ihre Termine absagen würden. „Viele unserer Patienten gehören zur Risikogruppe
und bleiben nun lieber zuhause. Viele glauben aber auch, dass die Praxen aufgrund der verhängten Kontaktverbote geschlossen sind“, erläutert Repschläger. Das sei aber nicht korrekt. „Heilmittelerbringer sind systemrelevant, das heißt sie gehören ausdrücklich zum Kern der Gesundheitsversorgung, wie Krankenhäuser, Ärzte und Apotheker auch. Sie dürfen – und müssen – weiterhin Patienten behandeln.“
Der Verband fordert finanzielle Soforthilfen von der Gesetzlichen Krankenversicherung in Form von Ausgleichszahlungen. „Wenn wir keine Leistung erbringen können, entstehen den Krankenkassen keine Kosten. Ganz im Gegenteil: Sie profitieren finanziell von dieser Situation“, sind sich alle SHV-Mitgliedsverbände einig: „Denn die Kosten für
Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie und Podologie sind im Haushaltsplan der Krankenkassen bereits eingeplant. Es bringt sie also nicht in finanzielle Schwierigkeiten, den Heilmittelerbringern eine Soforthilfe auszuzahlen, um deren Umsatzeinbußen auszugleichen. Für die Krankenkassen ist das ein Nullsummenspiel. Den Heilmittelerbringern rettet das aber deren Existenz – und darauf kommt es im Moment mehr denn je an.“
Andrea Schaefer will jetzt auch verstärkt auf Videotherapie setzen. Damit kann sie zumindest gut Kinder und deren Eltern erreichen sowie den ein oder anderen Schlaganfallpatienten. Für die Demenzkranken, denen sie ebenfalls hilft, den Alltag leichter zu bewältigen, sei das allerdings keine Lösung. Und ältere Menschen, die nicht technikaffin
Michael Dieterle sind, kann sie so auch nicht helfen.
Für die Physiotherapeuten ist Videotelefonie keine Lösung. Auch sie verzeichnen einen starken Umsatzrückgang. „So 60 bis 70 Prozent der Patienten sagen ab, weil sie erst mal abwarten wollen. Ich kann das gut nachvollziehen“, sagt Michael Dieterle, der eine Praxis für Physiotherapie in Ravensburg betreibt. Der größte Horror für ihn wäre es, jemand anderen anzustecken. „Man riecht nicht und schmeckt nicht, ob jemand infiziert ist. Am Anfang merkt man es ja oft nicht mal selbst.“Der 38-Jährige trägt neuerdings Mundschutz, wenn er Patienten behandelt. „Das ist schon ein komisches Gefühl, irgendwie bedrückend.“Da er keine Miete zahlen muss und seine Eltern in der Praxis mithelfen, kommt er jedoch finanziell zwei Monate über die Runden und bleibt optimistisch. „Wir leben immer noch im Luxus in Europa, haben genug Nudeln und genug Klopapier. In anderen Ländern ist die Situation viel schlimmer.“
„So 60 bis 70 Prozent der Patienten sagen ab, weil sie erst mal abwarten wollen.“