Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Weder Russland noch Europa
Die deutsche Geschichte ist in der russischen Exklave Kaliningrad noch immer sichtbar – Zum Unmut der Behörden
KALININGRAD - Die russische Studentin Maria Wachruschewa wandelt eine Flusspromenade entlang und betrachtet kleine europäische Fachwerkhäuser. Dabei ist Maria nicht nach Europa gereist, sie ist keine Touristin. Die 23-Jährige ist zu Hause in ihrer Heimatstadt Kaliningrad in der gleichnamigen russischen Exklave, die an Polen und Litauen grenzt. „Wir nehmen uns selbst anders wahr als die restlichen Russen. Sie halten uns für versnobt, weil wir öfter nach Europa reisen als ins ,große Russland‘“, erzählt Wachruschewa. „Wir fahren beispielsweise nach Polen, um europäische Lebensmittel einzukaufen. Auch Berlin liegt uns geographisch näher als Moskau.“
Der Name Kaliningrad ist im Jahr 1946 entstanden. Die Stadt selbst ist viel älter. Sie wurde bereits 1255 gegründet und hieß damals Königsberg. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war Königsberg die Hauptstadt von Ostpreußen. Infolge des Potsdamer Abkommens wurden diese Provinz und die anderen deutschen Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie, der heutigen Grenze zwischen Deutschland und Polen, von Deutschland getrennt. Der nördliche Teil von Ostpreußen einschließlich Königsberg kam unter sowjetische Verwaltung. Fast alle Deutschen, die dort den Krieg überlebt hatten, wurden bis 1948 aus der sowjetischen Zone nach Deutschland abgeschoben. Die Hauptstadt benannten die Sowjets in Kaliningrad um – zu Ehren des bekannten kommunistischen Parteifunktionärs Michail Kalinin.
Heute wohnen etwa eine halbe Million russische Bürger in der Stadt. Viele deutsche Bauten wurden im Krieg zerstört. Auch später unter sowjetischer Verwaltung verlor die Stadt viele wertvolle Gebäude, darunter das alte preußische Königsschloss. Andere Prachtbauten stehen aber bis heute, zum Beispiel der große Königsberger Dom. Darin befindet sich das Grab des deutschen Philosophen Immanuel Kant. Er wurde in Königsberg geboren und verbrachte sein ganzes Leben dort.
Kürzlich wollten Einwohner Kaliningrads den Stadtflughafen sogar zu Kants Ehren umbenennen. Die lokalen Behörden lehnten die Initiative ab. „Die Behörden befürworten keine ,Germanisation‘ der Stadt“, sagt Wachruschewa. Sie seien unglücklich, wenn jemand sein Haus im Fachwerkstil baue oder ein gotisches Straßenschild aufhänge. „Aber so ist die Realität – unsere Stadt war deutsch und es wäre dumm, das zu leugnen. Die Kaliningrader wollen einfach diese Erinnerung behalten.“
Inwieweit die Stadt europäisch oder deutsch bleibt, sei schwer zu beantworten, sagt Igor Okunew, Professor für politische Geografie an der Moskauer Universität für Internationale Beziehungen: „Russland als Ganzes führt sich als ,Gulliver‘ auf im Vergleich zu europäischen Ländern. Eine kleine Stadt wie Kaliningrad ist aber eher ein ,David‘, umgeben von europäischen ,Goliaths‘.“
Okunew zufolge ist die Ostsee für die Kaliningrader Identität sehr wichtig: „Die Stadt sieht sich als eine Perle in der Kette von Kultur- und Handelszentren an der Ostsee.“Es gebe aber noch keine gefestigte Stadtidentität, weil die Kaliningrader nicht länger als seit vier Generationen in der Stadt lebten, erklärt Okunew weiter.
Dem stimmt auch die in Kaliningrad aufgewachsene Wachruschewa zu: „Ja, wir reisen oft und kaufen andere Lebensmittel, aber sonst sind wir wie andere Russen. Und unsere besondere Identität wird gerade vom Verhalten des ,großen Russland‘ bestimmt – dort gelten wir als außerordentliche Russen.“
In den 1990er-Jahren, nach dem Zerfall der Sowjetunion, kamen viele deutsche Touristen nach Kaliningrad. Sie wollten den Ort sehen, an dem ihre Vorfahren gelebt hatten, erzählt Wachruschewa. „Aber jetzt ist Kaliningrad leider für deutsche Touristen nicht so interessant, weil es weder das echte Russland noch das echte Deutschland ist“, sagt sie. Dabei könnte genau das Touristen locken, denkt Okunew: „Kaliningrad – die Heimat von Kant und Hoffmann (Ernst Hoffmann, ein bekannter deutscher Schriftsteller der Romantik) – ist eine unterschätzte Werbung für Touristen. Ich hoffe, es ändert sich mit der Einführung der elektronischen Visa.“
Ja, Kaliningrad sei weder Russland noch Europa, bestätigt auch der Politologe Okunew: „Die Stadt ist der russische Traum von Europa, davon, wie Russland aussehen sollte, wenn es ein europäisches Land wäre. Daher ist die Identität der Kaliningrader so vielschichtig – es gibt etwas Deutsches, Baltisches, Sowjetisches und Russisches – und diese Mischung macht die Stadt so interessant.“