Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Stunde null
Eine letzte Bahnreise und ein letzter Besuch im Theater vor der Corona-Pause
An diesem Freitag hätten die Menschen die Züge noch überfüllen können, wie sie es jeden Freitag tun. Man konnte noch tun, was man wollte. Für mich bedeutete das, dass ich nach Göttingen zur Uraufführung eines neuen Stückes mit dem interessanten Titel „Bombe!“reisen sollte. Eingestellt hatte ich mich auf den üblichen Andrang im ICE, es gab aber Platz im Überfluss. Kein Problem, mindestens eineinhalb Meter Sicherheitsabstand zu halten. Vielleicht war das ja der Grund für ein scheinbar paradoxes Gefühl: Da schleicht sich ein Virus sprunghaft in unser Gemeinwesen ein und ist so unberechenbar, wie es nur sein kann, im ersten Moment sorgt es aber nicht für eine Wendung hin ins Dramatische, sondern für Entspannung. Mit der relativen Leere im ICE und auf den Bahnsteigen stellte sich schnell ein Gefühl von Entschleunigung ein, als reduziere alleine schon der Umstand, dass wir uns gegenseitig nicht mehr so auf die Pelle rücken, den Stress, den wir uns Tag für Tag zumuten?
In Göttingen fiel dann auf, dass das Bewegungsbild auf der Straße bereits zu diesem Zeitpunkt ein anderes war. Es gab schon diese weiträumigen Ausweichbewegungen angesichts von Entgegenkommenden. Das Bewegungsmuster glich einer etwas eckigen Choreografie mit dem Ziel: größtmögliche Distanz gewährleisten, trotzdem aber signalisieren, dass freundliche Menschen unterwegs sind. Physisch wollten wir uns schon da auf keinen Fall mehr näherkommen, sendeten aber Signale einer wie auch immer gearteten Zugehörigkeit. Es fühlte sich an wie in einem jener Stadtraum-Projekte, in denen das Publikum Teilnehmer einer Tanzgruppe ist, von einer Stimme im Kopfhörer dirigiert. Man konnte den Eindruck gewinnen, Covid-19 kehre nur das Beste im Menschen hervor und sorge für eine soziale Performance mit dem Titel „Wir“.
Dass das Virus aber auch ganz anders kann, zeigte sich sehr schnell, und zwar im Hotel. An diesem Freitag, der dummerweise auch noch ein 13ter war, wirkte schon beim Einchecken alles seltsam irreal und distanziert, als habe sich ein einsamer Reisender in ein abgelegenes Motel verirrt wie weiland Marion Crane in Hitchcocks „Psycho“. Es gab noch keine häusliche Quarantäne und ich bewegte mich frei im öffentlichen Raum, war aber dennoch sozial isoliert – das wiederum stand dann in totalem Gegensatz zum Theaterbesuch.
Es ging ja um die Uraufführung von „Bombe!“, einem Theaterstück, das der Ravensburger Autor Philipp Löhle zusammen mit dem Syrer Abdul Abbasi geschrieben hatte. Thema war aber auch, dass ich das letzte Mal für unbestimmte Zeit auf Tuchfühlung mit Menschen sitzen sollte. In Bezug auf das Stück und die Inszenierung hat es sich auf jeden Fall gelohnt. Ob das auch für das Wohlbefinden des Publikums und der Schauspieler in den Tagen und Wochen danach zutrifft, sei dahingestellt.
„Bombe!“basiert auf realen und erfundenen Erlebnissen Abbasis, der aus dem syrischen Aleppo stammt, über Istanbul nach Deutschland gereist ist und heute Zahnmedizin in Göttingen studiert. Auf dem Youtube-Kanal „German Lifestyle“beschäftigt er sich schon seit einiger Zeit mit den Reibungsverlusten, die entstehen, wenn deutsche und syrische Stereotype aneinander vorbeischrammen. Der aktuelle Theatertext basiert nun auf Abbasis Erfahrungen während der Migration und vor allem darauf, dass er kein „illegaler Flüchtling“ist, auch wenn viele Deutsche in ihm genau das erkennen und dann unbedingt witzig sein wollen. Eine Frage, auf die er sehr häufig reagieren muss: Und wo hast du die Bombe versteckt?
Der syrische Migrant mit ungewolltem türkischen Hintergrund reiste an Bord eines Linienfluges nach Deutschland. Das Geld für das Ticket hatte er sich in Istanbul mit Übersetzungen verdient und sich parallel dazu so lange an deutschen Universitäten beworben, bis er eine Zulassung bekam. Er war also ganz „legal“nach Deutschland gekommen und genau das sorgt sowohl im Text als auch in der szenischen Umsetzung (Regie: Philipp Löhle) für ein virtuoses Spiel mit Klischeevorstellungen.
Abassi und Löhle dürften nicht nur deshalb zufrieden gewesen sein, weil „Bombe!“es kurz vor der Stunde null gerade noch auf die Bühne geschafft hatte. Auf mich dagegen wartete am nächsten Morgen eine seltsame Überraschung. Ich hatte im ICE ein ganzes Abteil für mich alleine. Ein Traum, der von diesem unangenehmen Gefühl überschattet wurde, sozial isoliert zu sein. Oder anders gesagt: Da fuhr einer mit dem ICE in Richtung Stunde null und konnte schon mal üben, wie das ist mit der häuslichen Quarantäne.