Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Individuell, schnell, präzise
Wohin Ingenieure die Medizintechnik von Morgen treiben
HANNOVER
- Knieprothesen, Hüftimplantate, Zahnersatz – Fortschritte in der Medizintechnik sorgen dafür, dass sich für immer mehr Menschen die Lebensqualität spürbar verbessert. Was hinter diesen Fortschritten steckt, bleibt oft im Verborgenen: die Produktionstechnik. Ohne hochpräzise, extrem effektiv arbeitende Maschinen, innovative Fertigungstechnologien und neue Materialien – kurzum, ohne den Maschinenbau – sind Implantate und medizinische Instrumente aller Art nicht denkbar. Auf der zurzeit in Hannover stattfindenden Weltleitmesse für die Metallbearbeitung (EMO) rücken eine Reihe dieser Hersteller ins Rampenlicht. Und es verwundert nicht, dass analog zum Medizintechnik-Cluster Tuttlingen, viele dieser Unternehmen aus dem Südwesten kommen.
Namen wie Trumpf, Schwäbische Werkzeugmaschinen (SW), Hermle oder Chiron bringt man nicht sofort mit Medizintechnik in Verbindung. Und doch erzielen diese Firmen substanzielle Umsätze in der Branche. Stabile Wachstumsraten, weitgehend unbeeinflusst vom Auf und Ab der Konjunktur, machen die Medizintechnik für Maschinenbauer interessant. „Wir haben vor zwei Jahren die strategische Entscheidung getroffen, uns stärker in der Branche zu engagieren“, sagt Tobias Trautmann, Vertriebsleiter von SW mit Sitz in Schramberg-Waldmössingen. Aktuell setzt das Unternehmen mit knapp 1100 Mitarbeitern rund 400 Millionen Euro um, fünf Prozent davon mit Kunden aus der Medizintechnik.
Hoch regulierte Branche
Leicht verdientes Geld ist das gleichwohl nicht. Denn die Medizintechnikbranche ist hoch reguliert. Innovationen – auch in der Produktion – brauchen länger, ehe sie sich durchsetzen. Vor allem die von Mai 2020 an geltende Medizinprodukterichtlinie, mit der die Europäische Kommission die Marktzulassung von Medizinprodukten neu geregelt hat, stellt die Firmen und ihre Zulieferer vor große Herausforderungen. Nicht immer zum Wohl des Patienten. Ein Beispiel sind individuell angepasste Implantate, etwa in der Gesichtschirurgie. Für solche Produkte gibt es noch gar keine Regelungen. Streng genommen ist jedes Implantat ein eigenes Produkt, der damit verbundene Dokumentationsaufwand immens. „Aktuell behilft sich die Branche mit Ausnahmegenehmigungen, bei denen der Chirurg das Risiko übernimmt“, sagt Lars Neumann vom Ditzinger Technologieunternehmen Trumpf.
Neumann verantwortet den Bereich 3-D-Druck für medizinische Anwendungen. In dieser Sparte stellt das Familienunternehmen Trumpf unter anderem Gesichts- und Hüftimplantate sowie Zahnersatz aus Titan her. Gegenüber konventionellen Bearbeitungsmethoden wie Fräsen ist der 3-D-Druck von Implantaten laut Neumann „doppelt so schnell und halb so teuer“. Vor allem bei Hüft-, Gesichts- und Wirbelsäulenimplantaten hätte die Methode Vorteile. Doch würden die ungelösten Zulassungsfragen „bremsen“. Nicht jeder Chirurg lässt sich schließlich darauf ein, auf eigenes Risiko Implantate einzusetzen.
Den Trend hin zu individualisierten Implantaten stellt Neumann gleichwohl nicht infrage. Diesen Trend in der Produktion darzustellen, wenn von jedem Produkt im Extremfall nur eine Variante hergestellt werden muss, treibt zurzeit viele Maschinenbauer um. Daneben stehen Automation und Präzision im Lastenheft der Firmen. „Der Kostendruck der Medizintechnikfirmen führt dazu, dass wir Maschinenbauer stärker gefordert werden“, erklärt Trautmann von SW. Das Unternehmen bietet unter anderem zweispindelige Bearbeitungszentren, auf denen Knochenplatten oder Knieimplantate gefertigt werden können, und die die Bearbeitungszeit gegenüber konventionellen, einspindeligen Bearbeitungszentren halbieren.
„Um am Standort Deutschland wirtschaftlich zu produzieren, müssen die Maschinen rund um die Uhr laufen – sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr“, sagt Udo Hipp, Marketingleiter beim Maschinenbauer Hermle aus Gosheim (Landkreis Tuttlingen). Das Unternehmen setzt deshalb auf Automatisierungslösungen, die ein menschliches Zutun, etwa bei der Materialzufuhr, überflüssig machen. Mit kleinen, kompakten Roboterzellen, die an verschiedene Bearbeitungszentren bei Medizintechnikherstellern angedockt werden können, zielt Hermle vor allem auf die mittelständische Kundschaft, die wenig Platz in ihren Produktionshallen hat.
„Prozesssichere“Genauigkeit
Dass bei allem Fokus auf kurze Durchlaufzeiten die Präzision nicht zu kurz kommt, illustriert Peter Braun, Vertriebsingenieur beim Tuttlinger Maschinenbauer Chiron. Das Unternehmen bietet seinen Kunden Maschinen, die Produkte mit einer Genauigkeit von drei Micrometern, also drei Tausendstel Millimeter, bearbeiten können „prozesssicher“, wie Braun sagt. Will heißen: Die Anlagen halten diese Toleranzen auch im Dauereinsatz durch. In vielen Medizintechnikfirmen werden solch extreme Anforderungen heute noch von Chirurgiemechanikern von Hand gemacht. Doch das dürfte sich ändern, glaubt Braun. „Die Unternehmen müssen ihre Medizintechnik aufgrund der neuen regulatorischen Anforderungen nachvollziehbar produzieren. Auf einer Maschine ist dieser Nachweis leicht zu führen, bei Handarbeit nicht.“Die Aussichten für die Branche scheinen intakt.