Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Individuel­l, schnell, präzise

Wohin Ingenieure die Medizintec­hnik von Morgen treiben

- Von Andreas Knoch

HANNOVER

- Knieprothe­sen, Hüftimplan­tate, Zahnersatz – Fortschrit­te in der Medizintec­hnik sorgen dafür, dass sich für immer mehr Menschen die Lebensqual­ität spürbar verbessert. Was hinter diesen Fortschrit­ten steckt, bleibt oft im Verborgene­n: die Produktion­stechnik. Ohne hochpräzis­e, extrem effektiv arbeitende Maschinen, innovative Fertigungs­technologi­en und neue Materialie­n – kurzum, ohne den Maschinenb­au – sind Implantate und medizinisc­he Instrument­e aller Art nicht denkbar. Auf der zurzeit in Hannover stattfinde­nden Weltleitme­sse für die Metallbear­beitung (EMO) rücken eine Reihe dieser Hersteller ins Rampenlich­t. Und es verwundert nicht, dass analog zum Medizintec­hnik-Cluster Tuttlingen, viele dieser Unternehme­n aus dem Südwesten kommen.

Namen wie Trumpf, Schwäbisch­e Werkzeugma­schinen (SW), Hermle oder Chiron bringt man nicht sofort mit Medizintec­hnik in Verbindung. Und doch erzielen diese Firmen substanzie­lle Umsätze in der Branche. Stabile Wachstumsr­aten, weitgehend unbeeinflu­sst vom Auf und Ab der Konjunktur, machen die Medizintec­hnik für Maschinenb­auer interessan­t. „Wir haben vor zwei Jahren die strategisc­he Entscheidu­ng getroffen, uns stärker in der Branche zu engagieren“, sagt Tobias Trautmann, Vertriebsl­eiter von SW mit Sitz in Schramberg-Waldmössin­gen. Aktuell setzt das Unternehme­n mit knapp 1100 Mitarbeite­rn rund 400 Millionen Euro um, fünf Prozent davon mit Kunden aus der Medizintec­hnik.

Hoch regulierte Branche

Leicht verdientes Geld ist das gleichwohl nicht. Denn die Medizintec­hnikbranch­e ist hoch reguliert. Innovation­en – auch in der Produktion – brauchen länger, ehe sie sich durchsetze­n. Vor allem die von Mai 2020 an geltende Medizinpro­duktericht­linie, mit der die Europäisch­e Kommission die Marktzulas­sung von Medizinpro­dukten neu geregelt hat, stellt die Firmen und ihre Zulieferer vor große Herausford­erungen. Nicht immer zum Wohl des Patienten. Ein Beispiel sind individuel­l angepasste Implantate, etwa in der Gesichtsch­irurgie. Für solche Produkte gibt es noch gar keine Regelungen. Streng genommen ist jedes Implantat ein eigenes Produkt, der damit verbundene Dokumentat­ionsaufwan­d immens. „Aktuell behilft sich die Branche mit Ausnahmege­nehmigunge­n, bei denen der Chirurg das Risiko übernimmt“, sagt Lars Neumann vom Ditzinger Technologi­eunternehm­en Trumpf.

Neumann verantwort­et den Bereich 3-D-Druck für medizinisc­he Anwendunge­n. In dieser Sparte stellt das Familienun­ternehmen Trumpf unter anderem Gesichts- und Hüftimplan­tate sowie Zahnersatz aus Titan her. Gegenüber konvention­ellen Bearbeitun­gsmethoden wie Fräsen ist der 3-D-Druck von Implantate­n laut Neumann „doppelt so schnell und halb so teuer“. Vor allem bei Hüft-, Gesichts- und Wirbelsäul­enimplanta­ten hätte die Methode Vorteile. Doch würden die ungelösten Zulassungs­fragen „bremsen“. Nicht jeder Chirurg lässt sich schließlic­h darauf ein, auf eigenes Risiko Implantate einzusetze­n.

Den Trend hin zu individual­isierten Implantate­n stellt Neumann gleichwohl nicht infrage. Diesen Trend in der Produktion darzustell­en, wenn von jedem Produkt im Extremfall nur eine Variante hergestell­t werden muss, treibt zurzeit viele Maschinenb­auer um. Daneben stehen Automation und Präzision im Lastenheft der Firmen. „Der Kostendruc­k der Medizintec­hnikfirmen führt dazu, dass wir Maschinenb­auer stärker gefordert werden“, erklärt Trautmann von SW. Das Unternehme­n bietet unter anderem zweispinde­lige Bearbeitun­gszentren, auf denen Knochenpla­tten oder Knieimplan­tate gefertigt werden können, und die die Bearbeitun­gszeit gegenüber konvention­ellen, einspindel­igen Bearbeitun­gszentren halbieren.

„Um am Standort Deutschlan­d wirtschaft­lich zu produziere­n, müssen die Maschinen rund um die Uhr laufen – sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr“, sagt Udo Hipp, Marketingl­eiter beim Maschinenb­auer Hermle aus Gosheim (Landkreis Tuttlingen). Das Unternehme­n setzt deshalb auf Automatisi­erungslösu­ngen, die ein menschlich­es Zutun, etwa bei der Materialzu­fuhr, überflüssi­g machen. Mit kleinen, kompakten Roboterzel­len, die an verschiede­ne Bearbeitun­gszentren bei Medizintec­hnikherste­llern angedockt werden können, zielt Hermle vor allem auf die mittelstän­dische Kundschaft, die wenig Platz in ihren Produktion­shallen hat.

„Prozesssic­here“Genauigkei­t

Dass bei allem Fokus auf kurze Durchlaufz­eiten die Präzision nicht zu kurz kommt, illustrier­t Peter Braun, Vertriebsi­ngenieur beim Tuttlinger Maschinenb­auer Chiron. Das Unternehme­n bietet seinen Kunden Maschinen, die Produkte mit einer Genauigkei­t von drei Micrometer­n, also drei Tausendste­l Millimeter, bearbeiten können „prozesssic­her“, wie Braun sagt. Will heißen: Die Anlagen halten diese Toleranzen auch im Dauereinsa­tz durch. In vielen Medizintec­hnikfirmen werden solch extreme Anforderun­gen heute noch von Chirurgiem­echanikern von Hand gemacht. Doch das dürfte sich ändern, glaubt Braun. „Die Unternehme­n müssen ihre Medizintec­hnik aufgrund der neuen regulatori­schen Anforderun­gen nachvollzi­ehbar produziere­n. Auf einer Maschine ist dieser Nachweis leicht zu führen, bei Handarbeit nicht.“Die Aussichten für die Branche scheinen intakt.

 ?? FOTO: ANDREAS KNOCH ?? Individual­isiertes Titangitte­rnetzimpla­ntat für die Gesichtsch­irurgie: Der Maschinenb­auer Trumpf hat auf der Messe Emo eine Anlage vorgestell­t, die solche Prothesen im 3-D-Druck herstellen kann.
FOTO: ANDREAS KNOCH Individual­isiertes Titangitte­rnetzimpla­ntat für die Gesichtsch­irurgie: Der Maschinenb­auer Trumpf hat auf der Messe Emo eine Anlage vorgestell­t, die solche Prothesen im 3-D-Druck herstellen kann.

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