Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Mit Netz, ohne doppelten Boden
Die Flying Wulber vom Weihnachtscircus haben eine SZ-Redakteurin ans Trapez gelassen
RAVENSBURG - Bedrohlich erstreckt sich der Abgrund unter der Plattform, hoch oben in der Kuppel des Ravensburger Weihnachtscircus, direkt vor den Füßen. Direkt da, wo die Zehen aufhören, beginnt das Nichts. Das Nichts reicht acht Meter in die Tiefe und endet in den Sägespänen der Manege. Dazwischen ist ein Netz gespannt – aus blauem Seil geknüpft. An einigen Stellen verstärkt, vielleicht ist es schon einmal gerissen? Wer weiß das schon. Hier oben möchte man darüber auch lieber nicht nachdenken. Denn das Netz erscheint aus dieser Höhe als einzige Sicherheit. Und die eigenen Hände natürlich, die sich fest um die Stangen seitlich der Plattform klammern. Doch nicht mehr lange, denn gleich soll es mit den Profis der Flying Wulber ans Trapez gehen, und dann ins Netz. Ein artistischer Selbstversuch.
Mitch, ein kleiner drahtiger Mann, ist Zirkusprofi. Er ist der Chef der Artistentruppe The Flying Wulber. Sie gastieren das erste Mal beim Ravensburger Weihnachtscircus von Elmar Kretz. Sind überhaupt das erste Mal in der oberschwäbischen Stadt. Mitch ist 44 Jahre alt und berühmt für den dreifachen Salto, den Salto Mortale. „Ich bin der älteste Artist in Europa, der dieses Kunststück beherrscht“, sagt der gebürtige Bulgare und lächelt stolz. Dass er es zu solcher Berühmtheit geschafft hat, verdankt er jahrelangem Training. Um solch waghalsige Kunststücke in luftiger Höhe zu vollführen, bedarf es aber auch des Vertrauens unter den Artisten. Die Truppe besteht aus seiner Frau, die aus einer italienischen Zirkusfamilie stammt, seinen beiden Töchtern, seinem Schwager und einem Artistenbrüderpaar aus Chile, sagt Mitch.
Der Salto Mortale steht an diesem Tag nicht auf dem Programm. „Schau nicht nach unten“, ruft Mitch, der soeben flink eine Leiter seitlich der Manege emporgeklettert ist. Ungelenk geht es entlang der metallenen Sprossen nach oben. Glücklicherweise spannt Patrizio, ebenfalls Luftartist, die Leiter von unten, sodass sie den unkontrollierten Bewegungen nicht zu sehr folgt, sondern einigermaßen ruhig zwischen den Sägespänen auf dem Manegenboden und dem Ziel hin und her schwingt.
Wie man wieder runterkommt
Mit zitternden Knien auf der schmalen Plattform angekommen, steht es sich ganz gut, so dicht unter der Zirkuskuppel. Gar nicht mal so sehr hoch, diese acht Meter, ist der Gedanke und die Nerven beruhigen sich ein wenig. Der nächste Gedanke bringt das Herz aber wieder in Schwung, denn nach oben zu kommen, war die leichteste Übung für heute. Mitch tätschelt beruhigend die Schulter: „Setz dich erst mal hin. So kannst du dich an die Höhe gewöhnen.“Er betätigt einen Schalter, die Plattform leuchtet blau auf. Blau wie das Netz, in das die Artisten sich nach ihren akrobatischen Übungen fallen lassen. Wenige Minuten zuvor, noch auf dem sicheren Boden, erklärt Mitch die knifflige Sache mit der Landung: „Wenn du da oben am Trapez schwingst, musst du dich einfach nur festhalten. Nach drei Schwüngen werde ich, wenn du vorne angekommen bist, ,up’ rufen. Dann musst du einfach nur loslassen.“Mitch bekräftigt seine Erklärung, indem er die Arme hebt, die Hände zu Fäusten ballt und bei dem Wort „up“die Finger öffnet. „Wichtig ist, dass du nicht auf den Füßen landest. Das könnte schlecht ausgehen.“Er zieht seine Knie an, um deren Begegnung mit dem Gesicht zu demonstrieren. „Das tut weh“, sagt Mitch.
Schon bei den Vorübungen im Netz ist klar, so einfach wird die Landung nicht werden. Die Trockenübung: Auf dem Netz nach oben springen und sich dann, in der Hüfte leicht abgeknickt, auf den Rücken fallen lassen. Die Versuche scheitern kläglich an den Zehen, die sich immer im Moment des Absprungs in den Maschen des Netzes verhaken und so jeden Versuch, den Körper zu strecken und sich nach hinten fallen zu lassen, erfolgreich verhindern. „Macht nichts“, sagt Mitch, „du wirst das hinbekommen.“
Alle Zweifel zur Seite schiebend, beginnt die Mutprobe. Mitch schnalzt auffordernd mit der Zunge, während Patricio ermutigend lächelt. Mittlerweile stehen wir zu dritt auf dem beleuchteten Brett. Patricio, der seinen Platz auf der linken Seite der Plattform eingenommen hat, reicht das Trapez. Mit beiden Händen an der Stange ist das Gefühl zu fallen übermächtig. Das einzige Gegengewicht ist Mitch, der seine Arme von hinten fest um die Taille geschlungen hat. „Ich halte dich“, sagt er beruhigend. Patricio deutet mit der Hand vor die Plattform: „Die Füße hierhin.“Wie bitte? Da ist nichts. „Ja“, sagt Patricio nickend. Kaum haben sich die Füße gelöst, lässt Mitch die Umklammerung los. Mit einem weiten Schwung, begleitet von einem Schrei – war es Mitchs oder der eigene? – geht es zur gegenüberliegenden Seite des Zeltes. Und genauso schnell auch wieder nach hinten. „Entspann dich“, schallt es. Und tatsächlich ist das Gefühl über den leeren, dunklen Zuschauerrängen hinund herzuschwingen auf einen Schlag ein schönes. Ob ein Leben beim Zirkus nicht doch toll sein könnte?
Auch Mitch ist nicht beim Zirkus aufgewachsen. Er stammt aus Bulgarien, machte seit seiner frühen Kindheit Gymnastik. Nach einem Unfall beim Eiskunstlauf heuerte er mit dreizehn Jahren bei einem Zirkus an. „Meine Eltern fanden das in Ordnung“, sagt er. Schließlich hatte er so eine Perspektive, konnte reisen und verdiente Geld. „Das war aber noch eine andere Zeit“, fügt er an, seine Töchter, 18 und 20 Jahre alt, würde er heute nicht einfach alleine losschicken, beteuert er. Nach einigen Jahren, die Mitch bei einer Pferdeshow verbrachte, wechselte er zum Trapez. Gemeinsam mit seiner Frau gründete er die Flying Wulber. Seit 30 Jahren ist er nun beim Zirkus und kann sich ein anderes Leben nicht mehr vorstellen. Mit Zigeunerleben habe der Zirkus aber trotzdem nichts zu tun, sagt Mitch. Der Trailer der Familie ist eingerichtet wie ein gutbürgerliches Wohnzimmer. Ein Sessel musste dem üppig geschmückten Weihnachtsbaum weichen. In einer Ecke schlummert Hund Kitty, den die Familie auf ihrer Reise adoptiert hat. Zirkus ist für Mitch Kunst. Bis heute spüre er das Adrenalin, bevor er die Manege betrete. Lange wird Mitch aber nicht mehr unter der Zirkuskuppel zu sehen sein. In zwei Jahren haben die Flying Wulber ein Engagement bei einem großen Zirkus in Frankreich, erzählt er. Vielleicht hört er danach auf. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere.
Mit Schwung ins Netz
Ebenfalls auf dem Höhepunkt meiner Trapezkarriere, soll es nun nach mehreren Schwüngen wieder nach unten gehen. Die Schwerkraft zieht auch schon merklich an den Händen. Das Loslassen klappt trotzdem erst auf den zweiten Versuch. „Up“, ruft Mitch. Die Finger lösen sich und ich falle wenig elegant ins Netz. Dennoch glücklich liege ich auf dem Rücken im Netz und schaue an die Zeltkuppel. Jeder Artist habe seinen eigenen Stil, erklärt mir Mitch später auf den Zuschauerrängen sitzend. Meiner ist eindeutig ein Mehlsack.