Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Fehlerhafte Implantate
Immer mehr Komplikationen bei Medizinprodukten
RAVENSBURG (sz/epd) - Gesundheitsexperten fordern einen besseren Schutz von Patienten vor gesundheitsschädlichen Medizinprodukten. „Das System ist zu stark vonseiten der Hersteller gedacht, nicht vonseiten der Patienten“, sagte der Medizintechnik-Experte Uvo M. Hölscher vom Aktionsbündnis Patientensicherheit. Krankenkassen fordern strengere Gesetze für einen besseren Patientenschutz. Laut Recherchen von „Süddeutscher Zeitung“, NDR und WDR hat sich die Zahl der in Deutschland gemeldeten Fälle, bei denen Menschen nach verschiedenen Problemen im Zusammenhang mit Medizinprodukten wie Implantaten und Prothesen verletzt wurden oder starben, in den vergangenen zehn Jahren verdreifacht.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) kündigte nun an, für „mehr Transparenz und damit mehr Patientensicherheit“sorgen zu wollen.
RAVENSBURG - Fehlerhafte Medizinprodukte sollen im vergangenen Jahr in Deutschland für 14 000 Komplikationen, darunter Verletzungen und Todesfälle, verantwortlich sein. Zu diesem Befund kommt ein weltweites Recherchenetzwerk, das sich Zulassung, Kontrolle und Fehlermanagement von Medizinprodukten angesehen hat. Hierzulande beteiligten sich die Sender NDR und WDR sowie die „Süddeutsche Zeitung“an den Recherchen, deren Ergebnisse in den „Implant Files“veröffentlicht wurden.
Der Kernvorwurf: Im Gegensatz zu Arzneimitteln, die vor der Zulassung genauestens geprüft werden, würden Medizinprodukte nicht von staatlichen Stellen kontrolliert und Probleme nicht systematisch erfasst. Damit kämen auch neue Medizinprodukte auf den Markt, die schlecht oder gar nicht getestet wurden. Das System sei „manipulierbar, fehlerhaft und verantwortlich für ungezählte Tote“. Im Zentrum der Kritik: Implantate – also Produkte, die dauerhaft in den menschlichen Körper eingesetzt werden, wie Herzkatheter, Kniegelenke oder Brustimplantate.
Die Rechercheergebnisse schlagen aktuell hohe Wellen – und sie sind auch im „Weltzentrum der Medizintechnik“in Tuttlingen zu spüren. Mehr als 400 Unternehmen mit rund 8000 Beschäftigten arbeiten in Europas größtem MedizintechnikCluster an Produkten, die vom einfachen Skalpell (Klasse 1) bis hin zu Hochrisikoprodukten (Klasse 3) wie eben Implantate reichen.
Die Einstufung der Produkte in die einzelnen Klassen orientiert sich am Gefahrenpotential, das von den Produkten für den Patienten ausgeht. Je höher die Klasse, desto höher sind die Zulassungskriterien für die Hersteller. Nach Erhebungen der Interessenvertretung Medical Mountains aus Tuttlingen vom Jahr 2016 stellen ein gutes Fünftel der Firmen (22,5 Prozent) aus der Region solche Hochrisikoprodukte der Klasse 3 her beziehungsweise wirken daran mit.
„Kein Kommentar“
Öffentlich dazu äußern möchte sich keiner der Medizintechnikhersteller. Die Firma Aesculap, die unter anderem künstliche Kniegelenke herstellt, verwies auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“auf den Bundesverband Medizintechnologie BVMed. Dieser wiegelte am Tag nach dem Bekanntwerden der „Implant Files“in einer Pressemitteilung ab: „Das regulatorische System für Medizinprodukte enthält gleich hohe, teilweise höhere Anforderungen als an Arzneimittel.“
Und bei KLS Martin, einem Unternehmen, das unter anderem Implantate und Implantatsysteme für die Handchirurgie im Produktportfolio hat, hieß es, „dass wir in diesem Fall von einer Stellungnahme absehen möchten“. Die Nerven, so scheint es, liegen blank. Einzig der Endoskopspezialist Karl Storz äußert sich auf Nachfrage der „Schwäbischen Zeitung“zu den „Implant Files“: „Es sind uns momentan keine Studien bekannt, die belegen, dass behördliche Zulassungsverfahren mehr Produktsicherheit hervorbringen. Unabhängig davon, ob der Marktzugang für Medizinprodukte staatlich oder nicht-staatlich organisiert ist, muss sich jeder Hersteller und jede Prüforganisation an die geltenden Gesetze halten“, erklärte Unternehmenssprecherin Regina Stern.
Fakt ist: Ein Medizinprodukt muss laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), das für die Sicherheit von Medizinprodukten
zuständig ist, kein behördliches Zulassungsverfahren durchlaufen. Der Hersteller muss nur nachweisen, „dass sein Produkt sicher ist und die technischen und medizinischen Leistungen auch so erfüllt, wie sie von ihm beschrieben werden“. Teil des Bewertungsverfahrens sei aber „immer eine klinische Bewertung, in bestimmten Fällen auch eine eigene klinische Prüfung“.
Zuständig für die Prüfung sind sogenannte „Benannte Stellen“– rund 50 privatwirtschaftliche Anbieter wie TÜV, Dekra oder DQS. Das Problem: mögliche Interessenkonflikte. Denn die Medizintechnikhersteller beauftragen eine „Benannte Stelle“ihrer Wahl damit, ihre Produkte zu prüfen und bezahlen sie dafür. Die Unternehmen finanzieren also die Prüfinstanzen. Viele Anträge werden den Recherchen zufolge zudem nur auf dem Papier geprüft. Konfrontiert mit der Problematik hieß es bei DQS, die in Frankfurt ihren Hauptsitz haben, mit einer Außenstelle aber auch in Tuttlingen vertreten sind: „Kein Kommentar.“Implantate können zudem ganz ohne klinische Tests auf den Markt gelangen, wenn der Hersteller argumentiert, dass das neue Produkt so ähnlich ist oder funktioniert wie eines, das bereits einmal auf dem Markt war.
„Pragmatische Umsetzung“
Mit der neuen Medizinprodukteverordnung (MDR), die im Mai 2017 in Kraft getreten ist und deren Regularien nach einer Übergangsfrist im Mai 2020 gelten, soll die Sicherheit und Qualität von Medizinprodukten EU-weit auf ein neues Niveau gehoben werden. Auslöser war der Skandal um minderwertige Brustimplantate der französischen Firma Poly Implant Prothèse im Jahr 2010. Damit sich ein solcher Fall nicht wiederholt soll es künftig mehr klinische Studien geben. Doch gegen ein allzu strenges Regelwerk ist die Branche erfolgreich Sturm gelaufen – und tut es noch.
Eine zentrale Kontrollinstanz die die Zulassung der Medizinprodukte verantwortet, und die bei der Europäischen Arzneimittelkommission angesiedelt werden sollte, wurde schon vor Jahren abgeschmettert. Volker Kauder (CDU), ehemaliger Chef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, dessen Wahlkreis Tuttlingen ist, hatte sich damals wiederholt dagegen stark gemacht. Mit Erfolg. Damit bleibt das Grundproblem bestehen: Ein System, das komplett in privater Hand ist und wo sich Hersteller und Prüfer bestens kennen.
In der jüngeren Vergangenheit intervenierte Baden-Württembergs Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) mehrmals gegen die MDR. In einem aktuellen Schreiben an die EU-Kommission, das der „Schwäbischen Zeitung“vorliegt, heißt es: „Ich habe daher die große Bitte an Sie, wenn schon keine materiellen Änderungen der MDR mehr möglich sein sollten, zumindest alle bestehenden Auslegungsoptionen und Spielräume für eine möglichst pragmatische Umsetzung der MDR zu nutzen.“