Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Netflix sieht dich, misst dich, versteht dich
Wie der Streaming-Boom die Gesellschaft verändert
Interaktion an der SRH Berlin University of Applied Science. „Kaum jemand denkt über Unterhaltungsangebote nach.“
Josef Lederle leitet das Portal filmdienst.de für Kino- und Filmkritik. Auch er hält eine kritische Debatte „unbedingt“für sinnvoll. Wichtig sei, dass Menschen die Mechanismen erkennen könnten, mit denen die großen Player arbeiteten – so wie es wichtig sei, die Wirkung von Werbung zu kennen. „Gerade junge Menschen nutzen diese Angebote massiv. Daher sehe ich einen klaren Erziehungsauftrag bei den
Schulen“, sagt Lederle. Aber auch die klassischen Medien müssten mehr Aufklärung leisten.
An diesem Punkt setzt Kleiners Kritik an: Gerade die jüngere Generation begreife die aktuelle Entwicklung nicht als Verlust an Souveränität, sondern als Wahlfreiheit. Für problematisch hält der Autor etwa permanente Datensammlung und Personalisierung. So verfolgten Streaming-Dienste genau, wer welche Sendung ansehe, zu welcher Zeit, wie lange, wo gestoppt oder wiederholt werde. „Wer diese Daten auswertet, erstellt das, was ich 'Netflix-Persona' nenne“, erläutert der Wissenschaftler.
Wie genau das geschehe, lasse sich nicht nachvollziehen. Beim Konsumenten entstehe jedoch der Eindruck, von guten Mächten wunderbar geborgen zu sein: „So wie der Christ von Gott als einzelner Mensch gesehen wird, so werde ich jetzt, säkular von Netflix, als Bedürfniskörper gesehen. Netflix sieht mich, misst mich, versteht mich — und gibt Orientierung durch die Welt der Unterhaltung.“Tatsächlich interessiere sich Netflix aber nicht für den einzelnen Menschen mit konkreten Fragen, Sorgen und Bedürfnissen.
Nach Ansicht von Lederle betrifft das Problem nicht nur StreamingDienste. „Beim Streamen mache ich mich nicht sichtbarer als beim Online-Shopping, beim Lesen von Artikeln oder beim Recherchieren im Netz“, erklärt er. Die Frage, ob sich die Welt den „Big Playern“ergebe oder sich um Grenzen bemühe, sei vielmehr eine grundlegende. Auch Filterblasen habe die Streaming-Industrie nicht erfunden, gibt der FilmExperte zu bedenken. Dennoch sieht er darin eine gewisse Gefahr: „Die digitale Welt softet uns im Bekannten ein.“In Buchläden, im Kino und in Videotheken sei die Chance für Zufallsfunde ungleich größer, weil sie eben „alles Mögliche“anböten — und nicht allein persönliche Vorlieben bedienten.
Einen möglichen Ausweg aus diesem Dilemma sieht Lederle bei Nischen-Anbietern: Mediatheken von öffentlich-rechtlichen Sendern oder Einrichtungen wie der Bundeszentrale für politische Bildung, SpartenAnbieter wie realeyez, alleskino.de oder LaCinetek. Der „Filmdienst“stellt freilich auch Neuerscheinungen auf Netflix und Co. vor – sein Archiv mit Rezensionen und detaillierten Informationen gilt als das größte in Deutschland. „Dabei versuchen wir, Highlights herauszustellen“, betont der Redaktionsleiter.
Grundsätzlich brauche es mehr Digitalkompetenz, fügt Wissenschaftler Kleiner hinzu. „Wir diskutieren nur auf der Ebene von Gefallen und Nichtgefallen.“Digitalkompetenz bedeute mehr als zu wissen, welcher Button auf welchem Gerät zu welchem Angebot führe. Wenn nur noch Selbstoptimierung und Unterhaltung gefragt sei, drohten Werte wie Aufklärung und Autonomie verloren zu gehen.
Droemer Verlag, München 2020, 303 Seiten, 20 Euro.