Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Die Grenzen des Corona-Protests
Polizeistreifen vor Privathäusern von Politikern und Angst vor Störern in Büros - Wie regionale Abgeordnete die Lage erleben
STUTTGART/BERLIN - Gegenwehr sind Politiker gewohnt. Seit Mittwoch sprechen Abgeordnete aus der Region allerdings von einer neuen Qualität. Grablichter vor dem Privathaus eines CDU-Bundestagsabgeordneten am Bodensee, Störer im Bundestag: Mit derlei Protestaktionen hätten Gegner von Corona-Maßnahmen Grenzen überschritten, sind sich Politiker von CDU bis Linke einig. In Oberschwaben war die Polizei besonders wachsam.
Bundestag und Bundesrat haben am Mittwoch die Neufassung des Infektionsschutzgesetzes beschlossen. Damit soll klarer geregelt sein, welche Maßnahmen die Landesregierungen zur Eindämmung von Pandemien wie der aktuellen ergreifen können. Auf Einladung von AfD-Abgeordneten waren im Berliner Reichstag und auf den Fluren der Abgeordnetenbüros Störer unterwegs. Abgeordnete und Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) berichteten von Pöbeleien und Bedrängung.
Abgeordnete seien „in unseren Liegenschaften bedrängt und gegen ihren Willen gefilmt worden“, schreibt Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) am Freitag in einem Brief an die Parlamentarier. Das könne eine Atmosphäre schaffen, die einer freien und offenen Diskussion entgegenstehe. Deshalb habe er die Verwaltung gebeten, „alle rechtlichen Möglichkeiten“gegen die Störer und ihre Gastgeber zu überprüfen. Auch die Stuttgarter Landtagsverwaltung prüft, ob und wie sie solche Störaktionen verhindern kann. Das Thema hat am Freitag den Bundestag in einer aktuellen Debatte beschäftigt. Abgeordnete von Union, SPD, Grünen, FDP und Linken werfen der AfD eine gezielte Strategie zur Beschädigung des Parlaments vor.
Der Ravensburger CDU-Abgeordnete Axel Müller verweist auf das Strafgesetzbuch und spricht von einem „Anfangsverdacht für die Nötigung der Mitglieder eines Verfassungsorganes“, dessen sich die Störer möglicherweise schuldig gemacht hätten. „Die Abgeordneten der AfD, die diesen Personen beim Zutritt geholfen haben, haben sich gegebenenfalls wegen der Beihilfe zu dieser Straftat zu verantworten“, sagt er. „Ich erachte es für dringend notwendig, dass die Demokratie hier ihre Wehrhaftigkeit unter Beweis stellt und derartige Angriffe auf die Fundamente des demokratischen Rechtsstaates mit allen Mittel des Rechtsstaates abwehrt.“
Darauf hofft auch die Vize-Vorsitzende der Grünen-Fraktion Agnieszka Brugger. „Es gab vorher schon eine große Verunsicherung, gerade in der Belegschaft“, sagt die Ravensburger
Abgeordnete. „Es war ja kein zufälliger Exzess, der aus dem Moment entstanden ist.“Sie spricht von einer geplanten Aktion. „Mich macht das extrem wütend. Der Bundestag, das Parlament, ist ein offenes Haus der Diskussion für Bürgerinnen und Bürger. Das versucht man mit solchen Störaktionen kaputt zu machen. Es darf nicht die Konsequenz sein, sich deshalb nun abzuriegeln.“
Der Biberacher SPD-Abgeordnete Martin Gerster zieht „ziemlich gruselige Parallelen zur Weimarer
Republik“, wie er sagt. „Im Sommer standen die Demonstranten auf den Treppen des Reichstags, am Mittwoch waren sie schon im Gebäude. Wir müssen aufpassen, dass sie nicht bald auch im Plenarsaal sitzen – wobei die Türöffner bereits drin sind“, so Gerster mit Fingerzeig Richtung AfD. Der gehe es nicht darum, Kritik zu üben. „Es geht darum, unsere Demokratie zu zerstören. Das jedenfalls war ein ganz klarer Tabubruch.“
AfD-Fraktionschef Alexander Gauland entschuldigte sich am Freitag
während der Bundestagsdebatte als Fraktionsvorsitzender für das Verhalten der AfD-Gäste. Es sei unzivilisiert gewesen und gehöre sich nicht. Gleichzeitig wies er jegliche Schuld von sich und seinen Parteikollegen. Die Besucher seien ganz offiziell angemeldet gewesen und hätten die Sicherheitsüberprüfung durchlaufen. „Wir konnten also nicht damit rechnen, dass so etwas passiert.“
Das lassen die Abgeordneten anderer Couleur nicht gelten. Die AfD fördere Hass und Aggressivität, betont der Linken-Parteivorsitzende Bernd Riexinger. „Was die AfD abzieht, wirkt inzwischen bedrohlich. Die strahlen eine Aggressivität aus, die überspringt auf ihre Anhänger.“Viele sogenannte Querdenker hätten kein Problem damit, Seite an Seite mit Rechtsradikalen zu demonstrieren. Zu lange habe der Verfassungsschutz und auch die CDU die Gefahr von rechts verschlafen. „Die haben zu lange nur nach links geschaut“, moniert Riexinger.
Rund um den Bundestag hatten mehrere Tausend Menschen gegen die Corona-Politik demonstriert – und ignorierten dabei vielfach Abstandsregeln und sonstige Auflagen. Es kam zu Rangeleien mit der Polizei. Manche Abgeordnete hatten den Protest bereits Tage zuvor vor der eigenen Haustür.
Eine Aktion richtete sich etwa gegen den CDU-Bundestagsabgeordneten Lothar Riebsamen vom Bodensee. Eine Gruppe Protestierender hat ihn zu Hause aufgesucht und Grablichter vor seinem Grundstück aufgestellt. „Das macht natürlich was mit einem“, sagt Riebsamen der „Schwäbischen Zeitung“. Das fühle sich anders an als die 1000 ProtestMails und Anrufe, die ihn vor der Abstimmung über das Infektionsschutzgesetz erreicht hätten. Er sorge sich um seine Frau, so Riebsamen. „Meine Frau ist ohnehin ungern allein, ich bin häufig in Berlin. Mein Gewissen wird nun nicht besser.“Sicherheitsvorkehrungen an seinem Haus werde er nun deutlich gewissenhafter nutzen.
Im gesamten Bereich des Polizeipräsidiums Ravensburg hätten Streifen vermehrt die Bereiche rund um Wohnhäuser und Büros von Landtagsund Bundestagsabgeordneten kontrolliert, wie eine Präsidiumssprecherin bestätigt. „Es gab lokale Gruppierungen, die angekündigt hatten, nicht nach Berlin zu fahren, sondern vor Ort zu protestieren“, sagt sie. Mancher Landtagsabgeordnete berichtet auch davon, dass die Polizei geklingelt und vor möglichen Aktionen gewarnt habe. Passiert sei aber nichts, so die Polizeisprecherin. Lediglich an drei Orten hätte sich eine Handvoll Protestierender versammelt.