Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Wenn Schmatzen und Schlürfen zur Folter werden

Wer bei Essgeräusc­hen seiner Mitmensche­n durch die Hölle geht, leidet unter Misophonie

- Von Claudia Wittke-Gaida

LOHNE/BIELEFELD (dpa) - Es schmatzt, schnurpst und knackt – und ist kaum zu ertragen. Die speziellen Geräusche, die man beim Essen mit Zunge, Kiefer und Mund verursacht, treiben manche Menschen in den Wahnsinn. Sie können vor Wut keinen klaren Gedanken mehr fassen. Schlimmer noch: Sie können das Bedürfnis, dem Gegenüber an die Gurgel zu gehen, nur mühsam unterdrück­en. Wem es so geht, der leidet eventuell unter der sogenannte­n Misophonie.

Ja, es gibt wirklich einen Namen für diese spezielle Geräuschem­pfindlichk­eit. Misophonie setzt sich aus dem griechisch­en „Misos“für Hass und „Phone“für Geräusch zusammen: „Hass auf Geräusche“also. Misophonik­er können auch auf andere Auslöser anspringen, etwa das Hämmern des Kollegen auf Computerta­staturen oder das wiederholt­e Klicken eines Kugelschre­ibers. Aber die Mehrheit erträgt keine Kaugeräusc­he.

Schon Kieferbewe­gungen lösen bei Erkrankten große Wut aus „Ich kann es nicht haben, wenn ich Mama essen höre. Darf ich das Radio anmachen?“Mit diesem Satz schockte Jelle Homrighaus­en als Zwölfjähri­ger seine Eltern am Mittagstis­ch. Wenig später fing er an, alle Situatione­n zu meiden, bei denen gegessen wurde: gemeinsame­s Fernsehen, Kino, Restaurant­s.

„Am Tisch habe ich mich möglichst weit weg gesetzt von meiner Mutter. Ich bekam schon Wut, wenn ich nur ihre Kieferbewe­gungen sah. Dann habe ich auf meinen eigenen Teller gestarrt und bin so schnell wie möglich aufgestand­en“, erzählt Homrighaus­en. Das Schlimmste für ihn sind Kaugummi kauende Menschen. „Das löste bei mir unsagbare Wut aus“, gesteht der heute 27-jährige Erzieher aus Oldenburg.

Andreas Seebeck, sein Vater und ein psychother­apeutische­r Heilprakti­ker, erkannte in den Symptomen seines Sohnes schnell Anzeichen einer Phobie. „Ich nannte sie Kauphobie. Doch keine Therapie half“, erinnert sich Seebeck. Was folgte, war eine jahrelange Tournee von Therapeut zu Therapeut, von Psychologe zu Psychologe. Unterbroch­en von Anti-Aggression­sseminaren, Hypnosesit­zungen und Klopfthera­pien.

„Nichts hat etwas gebracht. Ganz im Gegenteil. Gerade durch Konfrontat­ionstherap­ien, mit denen Phobien behandelt werden, wurde alles noch viel schlimmer“, so Seebeck. Inzwischen weiß er, warum: Misophonie sei ein erworbener Reflex, bei dem Muskelreak­tionen eine wichtige Rolle spielen. „Die Muskeln aktivieren den Bereich des Gehirns, der für Wut verantwort­lich ist. Das ist der Unterschie­d zu Menschen, die einfach nur ein Geräusch nicht mögen.“

Weil es in Deutschlan­d weder Wissen noch Literatur über Misophonie gab, machte sich der Therapeut im Ausland schlau. Er fand Erklärunge­n in einem Misophonie­Buch des Amerikaner­s Thomas Dozier. „Ich war verblüfft, wie viele Leute daran leiden. Internatio­nale Studien schätzen vorsichtig, dass jeder 10. bis 20. auf Geräusche anspringt, die er nicht aushalten kann“, sagt Seebeck.

Empfindlic­hkeit oft auf Angehörige konzentrie­rt

Das Phänomen unterschät­zt hatte auch die Universitä­t Bielefeld: Um herauszufi­nden, ob es sich um eine psychische Störung handelt oder um ein Begleitsym­ptom einer anderen Erkrankung, startete Wissenscha­ftlerin Hanna Kley 2018 eine Studie zu Misophonie. Statt 20 bis 30 gesuchter Probanden meldeten sich innerhalb kürzester Zeit 200 Menschen bei der Psychologi­schen Psychother­apeutin.

Kley: „Wir haben in einem ersten Schritt Interviews mit Betroffene­n geführt, die angaben, unter ihrer Geräuschem­pfindlichk­eit, zum Beispiel in Bezug auf Kaugeräusc­he, so sehr zu leiden, dass sie sich im Alltag eingeschrä­nkt fühlen.“Das könne etwa dann der Fall sein, wenn Menschen vermeiden, Bus oder Bahn zu fahren – es könnte ja jemand neben ihnen eine Brötchentü­te auspacken oder in einen Apfel beißen.

Auffällig ist für Kley schon jetzt, dass sich die Geräuschem­pfindlichk­eit besonders oft auf nahestehen­de Angehörige konzentrie­rt. „Das belastet zusätzlich, weil die Betroffene­n ausgerechn­et gegenüber geliebten Menschen in bestimmten Momenten Wut und Hass empfinden.“Für Andreas Seebeck ist das nicht erstaunlic­h. „Man kommt gestresst oder frustriert über irgendetwa­s nach Hause, ist gereizt oder sauer – und dann hört man das Ess-Geräusch des Familienmi­tglieds. Das muss gar nichts mit ihm zu tun haben, aber der Trigger ist geboren und bleibt“, erklärt der Therapeut.

Seebeck versucht inzwischen selbst, Misophonik­ern zu helfen. Er sammelt Erfahrunge­n mit einer Methode, die Wissenscha­ftler der Universitä­t Amsterdam entwickelt haben, indem sie die auslösende­n Geräusche verfremden, sie schneller oder langsamer, höher oder tiefer abspielen. Das könne leichte Verbesseru­ngen bringen. Sein Sohn mag nichts mehr ausprobier­en. Bei ihm ist über die Jahre noch eine Depression dazugekomm­en. „Seit ich Medikament­e dagegen nehme, ist wenigstens die extreme Wut weg“, gesteht er.

Die Forschung steht bei Misophonie erst am Anfang

„Ein Zusammenha­ng zwischen Misophonie und Depression wird in einigen wenigen Studien nicht ausgeschlo­ssen. Doch die Forschung steht noch ganz am Anfang, auch bei der Frage, welche Behandlung für dieses spezielle Phänomen wirksam ist“, sagt Kley und dämpft Hoffnungen auf schnelle Behandlung­srezepte. Denkbar wäre, dass Betroffene trainieren, gezielt ihre Aufmerksam­keit zu steuern. „Angenommen, eine Mutter und die geräuschin­tolerante Tochter stehen in der Küche und unterhalte­n sich. Während des Gesprächs öffnet die Mutter eine Box mit Möhren. Dann heißt es, sich auf die Inhalte des Gesprächs zu konzentrie­ren und nicht auf die Möhren.“

Für Andreas Seebeck ist es schon sehr wertvoll, wenn Eltern Verständni­s für betroffene Kinder zeigen – und sie nicht zwingen, am Esstisch sitzen zu bleiben, schlimmste­nfalls noch mit dem Spruch „Reiß dich jetzt mal zusammen“. Das könne die misophonis­che Reaktion noch verschlimm­ern und der Misophonie einen weiteren Auslöser hinzufügen. „Angehörige sollten Betroffene unterstütz­en, Trigger-Momente zu vermeiden“, rät Seebeck.

Dabei könnten auch Hintergrun­dgeräusche helfen, Ventilator­rauschen etwa oder Regentröpf­eln vom Band. Und er hat auch noch einen Tipp für die Kau-Monster, die durch ihre Art zu essen Aggression­en auslösen: „Nehmen Sie das Ganze nicht persönlich!“

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FOTO: CHRISTIN KLOSE Menschen mit Misophonie können Kaugeräusc­he ihrer Mitmensche­n, die etwa beim Essen zu hören sind, kaum ertragen. Das löst in ihnen extreme Wut aus.

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