Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Wo ist mein Sohn?
Daniel Eberhardt verschwindet vor 13 Jahren – Jetzt könnte er für tot erklärt werden, doch die Mutter will weiterkämpfen
von Ariane Attrodt
ULM/THALFINGEN - Es ist ein Montagabend im Oktober, als es das letzte Lebenszeichen von Daniel Eberhardt gibt. Wie üblich steigt der Teenager nach Schulschluss – er geht auf die Anna-Essinger-Realschule in Ulm – in den Bus, fährt zum Ulmer Hauptbahnhof und setzt sich in den Regionalzug, der um 17.29 Uhr Richtung Heidenheim startet. Sein Ziel ist Thalfingen, ein Ortsteil von Elchingen bei Neu-Ulm. Dort lebt der Vater. Seit der Trennung seiner Eltern wohnt der Schüler unter der Woche bei ihm, die Wochenenden verbringt er bei seiner Mutter Karola. In Thalfingen beginnt dann das, was sich bis heute niemand erklären kann.
Angeblich steigt Daniel dort aus, um dem Lokführer zufolge gleich wieder einzusteigen und nach Ulm zurückzufahren. Dort sieht ihn um 18.40 Uhr ein anderer Zugführer. Dann verliert sich seine Spur. Das ist mittlerweile fast 13 Jahre her. Seitdem ist Daniels Mutter Karola auf der Suche nach Hinweisen: redet mit Daniels Freunden, verteilt Flyer, setzt eine Webseite auf, wendet sich an die Medien und geht Hinweisen nach, die sie bis an die französische Grenze führen.
In diesen 13 Jahren dreht sich das Leben von Karola Eberhardt um diese eine Frage: Was ist mit meinem jüngsten Sohn passiert? „In all den Jahren habe ich mich mit Suchen und Recherchieren über Wasser gehalten“, sagt sie. Bereits zweimal ist der Fall in der ZDF -Sendung „Aktenzeichen XY ... ungelöst“vorgestellt worden – einen durchschlagenden Erfolg brachte auch das nicht. Die Hoffnung, Daniel wohlbehalten zu finden, hat Eberhardt jedoch nie aufgegeben. Erst vor Kurzem hat sie die Organisation „Familie International“in Frankfurt mit der Suche beauftragt. Alle Recherchen gehen mittlerweile von ihr aus. Ihr älterer Sohn und ihr Ex-Mann glauben nicht mehr daran, dass Daniel zurückkehrt. Sie gehen eher davon aus, dass er sich das Leben genommen hat. „Männer wollen oft abschließen. Sie gehen anders damit um“, sagt Eberhardt. Das habe ihr ein Psychologe erzählt.
Hoffnung auf Hinweise bleibt
Wie sehr sie das Drama um Daniel umtreibt, merkt man der zierlichen Frau mit den mittellangen, blonden Haaren an. Oft ringt sie um die richtigen Worte, dann wieder sprudeln diese nur so aus ihr heraus. Und jetzt das: Im Oktober könnte Daniel für tot erklärt werden. Ein entsprechendes „Aufgebot“, wie es formell heißt, hat das Neu-Ulmer Amtsgericht veröffentlicht. Die gesetzlichen Vorgaben dafür wären erfüllt. Seine Mutter hegt die Hoffnung, dass dadurch doch noch ein entscheidender Hinweis eingeht. Dass, wenn jemand bislang geschwiegen hat, diesem jetzt
die Tragweite bewusst wird, und er sich an das Gericht wendet.
Dass ihr Sohn für tot erklärt werden könnte, ist für die Mutter unverständlich, allein wegen der Bezeichnung. „Es gibt keinen Beweis dafür, dass er tot ist und auch nicht dafür, dass er lebt.“Sie trinkt einen Schluck Wasser, dann sagt sie: „Man hat mir oft genug gesagt: Du musst dich mit allem auseinandersetzen. Aber es gibt ja nichts, was darauf hindeutet.“Dann fügt sie mit Blick auf die Frist des Gerichts hinzu: „Wenn sich niemand meldet, kann ich zwar hoffen, aber dann werde ich verlieren.“Widerspruch werde sie aber einlegen, ein Anwalt hat sie schon beraten.
In der Anfangszeit nach Daniels Verschwinden glaubt Karola Eberhardt, ihn an jeder Ecke zu sehen. Oft läuft sie jungen Männern hinterher, spricht sie an. Doch nie ist es Daniel. Im Mittelpunkt ihrer Suche steht immer Frankreich. Die Familie hat dort viele Urlaube verbracht. Dann sind da noch die anonymen Anrufe. Es redet niemand am anderen Ende – auch, wenn die Verbindung teilweise eine halbe Stunde bestehen bleibt. Im Hintergrund ist eine Art Militärsirene zu hören. „Ich war mir in meiner Seele sicher: Das war Daniel.“Karola Eberhardt stößt auf ein Internetforum,
in dem junge Männer Tipps geben, wie man sich über die Fremdenlegion absetzen kann. Ein Rat lautet, sich in Straßburg zu melden, weil dort auch Deutsch gesprochen wird. Karola Eberhardt fährt Anfang 2005 hin und trifft einen Taxifahrer. Der erzählt, er habe im Oktober 2004 zwei junge Männer gefahren, die der Legion beitreten wollten. Er erinnert sich daran, dass sie für eine Nacht in ein Hotel mussten. Dort habe sich einer der beiden mit dem Namen „Eberhardt“registrieren lassen. Die Ermittlungen der Polizei laufen ins Leere.
Karola Eberhardt behält das Internetforum im Auge, wird im Frühjahr 2015 auf einen Tag der offenen Tür bei der Fremdenlegion aufmerksam und fährt auch dorthin, mit Flyern und Daniels Foto im Gepäck. Ein Legionär sagt ihr, dass sein Vorgesetzter Daniel wiedererkannt habe. Dieser habe den Aufnahmetest zwar bestanden, aber der Legion nicht beitreten können, da seine Altersangaben von der internationalen Polizeiorganisation Interpol nicht bestätigt wurden. Er war noch keine 18 und hatte keinen Ausweis bei sich. Danach verlieren sich auch hier die Hinweise. Als Daniel am 25. Oktober 2004 verschwindet, ist er
mit 1,76 Meter recht groß für sein Alter, hat mittelblonde, kurze Haare und eine auffällige Brandnarbe an der Oberseite seiner rechten Hand. Er ist ein stiller Teenager, hat nur wenige Freunde. Wie viele Jungs in seinem Alter interessiert er sich für Autos und verbringt viel Zeit am Computer. Vor seinem Verschwinden habe er in einer schwierigen Phase gesteckt, erinnert sich seine Mutter. „Daniel war in einer Krise.“Einmal habe er gesagt: „Mit 16 Jahren bin ich nicht mehr da.“Karola Eberhardt schluckt, dann sagt sie: „Und das stimmt ja. Er war mit 16 nicht mehr da.“Daniels Geburtstag ist zwei Wochen nach seinem Verschwinden.
Probleme in der Schule
Mit das größte Problem war wohl, wie es nach der Schule weitergehen sollte. Er dachte darüber nach, die Schule abzubrechen und seinen Abschluss nachzuholen. „Um lernen zu können, braucht man ein Ziel“, sagte er. Bewerbungen hat er dennoch geschrieben – mit seinem Vater, wie Karola Eberhardt später herausfindet. In einem kleinen Schnellhefter sind die Antwortschreiben gesammelt. Alles Absagen. Es gibt mehrere Dinge in Daniels Leben, von denen seine Mutter erst im Nachhinein erfährt.
Der 15-Jährige habe versucht, sich heimlich einen Ausweis anfertigen zu lassen, sagt ihr ein Freund. Doch dafür wäre eine Unterschrift seiner Eltern notwendig gewesen. Später erzählt ihr ein früherer Mitschüler, den Daniel am Ulmer Kepler-Gymnasium kennengelernt hatte, dass Daniel in seiner neuen Klasse gemobbt worden sei. Karola Eberhardt macht sich Vorwürfe: „Der Schulwechsel war meine Entscheidung, meine Schuld.“
Auch unter der familiären Situation habe Daniel gelitten – seine Eltern trennten sich kurz vor seinem 13. Geburtstag. „In welcher Lage Trennungskinder stecken, sehe ich jetzt ganz anders.“Durch die zwei Wohnungen sei es für Daniel auch einfach gewesen, Dinge vor seinen Eltern zu verheimlichen, sagt Eberhardt. Am Abend seines Verschwindens denkt sie, Daniel sei bei seinem Vater und dieser wiederum, er sei bei seiner Mutter. Das klärt sich erst am späten Abend auf. „So hat sich alles verzögert – durch ein Missverständnis.“
Ob Daniel abgehauen ist oder Opfer eines Verbrechens wurde, ist bis heute unklar. Seinen schwarzen Rucksack und sein Schreibzeug hat der junge Mann an diesem Tag zwar dabei, sein Geld aber zu Hause gelassen. Später findet die Polizei die Wertsachen und seine Brille im Schulspind. Die Ulmer Kriminalpolizei erhofft sich von „Aktenzeichen XY“neue Ermittlungsansätze – doch zum Fall Daniel Eberhardt seien nur „sehr wenige Hinweise“eingegangen, sagt Polizeisprecher Wolfgang Jürgens. „Die Unterlagen liegen heute noch auf dem Schreibtisch des Sachbearbeiters.“
Ab und zu gibt es Informationen, denen die Polizei nachgeht. Jürgens sagt, dass es immer mal wieder Vermisstenfälle gibt, bei denen jemand länger verschwunden ist. Im Regelfall findet man den Gesuchten innerhalb der ersten drei Tage. Eine so lange Zeitspanne wie bei Daniel sei „ganz, ganz selten“.
Was an jenem Montagabend geschehen ist, könnte für immer ein Rätsel bleiben. Für Karola Eberhardt steht fest: „Wenn der Tod noch nicht bewiesen ist, kann man hoffen und wenn es nur ein Fünkchen ist.“