Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Alles nur gedopt?

Vor der Weltmeiste­rschaft in Peking steckt die Leichtathl­etik in einer ihrer größten Krisen

- Von Jürgen Schattmann

m Grunde muss man sich den Weltsport und seine Dopingkont­rollen wohl so vorstellen wie das Autofahren und die Sanktionen gegen Temposünde­r. Menschen sind zuweilen egoistisch, sie fahren gern schneller als erlaubt, sie haben es eilig, vor allem nachts, in der Zone 30. Sie bremsen nur dann, wenn sie festinstal­lierte Radarfalle­n sehen und hoffen inständig, dass sie nie mobil, also überrasche­nd, geblitzt werden. Auch manche Athleten wissen, dass sie kaum kontrollie­rt werden, vor allem nicht nachts, vor allem nicht im Training, und ihr Gewissen kennt keine Stoppschil­der: Sie dopen mit Mitteln, die nur Stunden nachweisba­r sind, im Zweifel entziehen sie sich den Tests einfach. Handelt es sich um Sportler, die der eigene Verband zudem noch warnt oder vor Sanktionen schützt respektive um Athleten aus armen Ländern, die sich bei einem Olympiasie­g nie mehr um ihre Zukunft sorgen müssen, steigt die Gefahr der Manipulati­on um ein Vielfaches an.

Dass Branchen wie der Radsport oder das Gewichtheb­en von Dopern verseucht sind, ist seit Langem bekannt. Dass in der Leichtathl­etik Zustände wie bei Sodom und Gomorrha herrschen, hatten sich Beobachter mit einem gesunden, also skeptische­n Menschenve­rstand, ebenfalls gedacht: Es gibt olympische Sprintfina­ls, bei denen von acht Läufern sieben (vorher oder nachher) gedopt waren. Und doch erschütter­n die täglich neuen Belege und Indizien, dass auch das Laufen, Springen und Werfen von einer Massenmani­pulation betroffen ist, diese Sportart gerade in ihren Grundfeste­n. Wenn am Samstag im Pekinger Vogelnest, dessen Kapazität von 91 000 auf 55 000 Plätze reduziert wurde, die 15. Leichtathl­etik-WM beginnt, spricht kaum mehr einer von den Olympische­n Spielen, die 2008 an gleicher Stätte eröffnet wurden. Und kaum einer mehr vom Smog und der Gesundheit­sgefahr in der chinesisch­en Hauptstadt. Wieder werden Fa- briken für zehn Tage stillgeleg­t, wieder werden 50 Prozent der Autofahrer vom Verkehr ausgeschlo­ssen. Doch alle sprechen von Doping.

Bei den Großereign­issen zwischen 2001 und 2012 soll laut ARD-Recherchen jeder dritte Medailleng­ewinner in den Ausdauer-Diszipline­n dopingverd­ächtige Blutwerte gehabt haben. Bei einer Umfrage der Uni Tübingen räumte 2011 vor der WM ein Drittel der Athleten ein, zu dopen. Die nun begonnenen Ermittlung­en des Weltverban­ds IAAF gegen 28 Athleten, die bei der WM 2005 und 2007 auffällig wurden, erscheinen da nur als Tropfen auf den heißen Stein, zumal sie durch Aussagen der Führung konterkari­ert werden. Der scheidende Präsident Lamine Diack nennt die DopingBeri­chterstatt­ung „hysterisch“, der Anti-Doping-Kampf der IAAF sei dagegen „außergewöh­nlich“. Ob Nachfolger Sebastian Coe wirklich willens ist, den Sport vor Betrügern zu schützen, ist nun die Frage.

Wem kann man noch trauen, ist die andere. Russen, Kenianern oder den Läufern des umstritten­en Nike Oregon Projects (NOP) um DoppelOlym­piasieger Mo Farah? Wohl eher nicht. Den Deutschen? Mutmaßlich schon. Einzig Weitspring­er Kofi Amoah Prah (40), bereits vor sieben Jahren zurückgetr­eten, ist in der IAAF-Liste der 290 gesperrten Leichtathl­eten zu finden – wegen Kokainmiss­brauchs. Deutsche, die dopen, laufen Gefahr, geächtet zu werden. Und reich werden sie bei Siegen auch nicht. Es wundert also nicht, dass sich im DLV mehr und mehr Sportler benachteil­igt und betrogen fühlen und auf die Barrikaden gehen. „Ich will nicht, dass die Leichtathl­etik so endet wie der Radsport“, sagt Diskuswerf­erin Julia Fischer. „Manchmal hat man das Gefühl: Bei der IAAF sitzen Dinos, die glauben, dass man mit Geld und der Bezahlung der richtigen Leute alles erreichen kann. Das muss aufhören.“

Was die Leichtathl­etik unterschei­det vom Radsport: Hier sind es die Athleten selbst, die gegen die Verseuchun­g ihres Sports aufbegehre­n. Mit ihrem Freund, dem in Peking fehlenden Robert Harting, hat Fischer einen Video-Protest gegen den Weltverban­d gestartet. 800-Meter-Läufer Robin Schembera aus Leverkusen hält darin ein Schild hoch mit der Aufschrift: „Ich möchte gegen saubere Athleten laufen, nicht gegen Monster.“Auch Stars wie Stabhochsp­ringer Renaud Lavillenie aus Frankreich oder der britische Weitspring­er Greg Rutherford unterstütz­ten die Aktion.

Die Deutschen wehren sich

Die Doping-Debatte wird bei dieser WM allgegenwä­rtig sein. Egal ob beim sonntäglic­hen Sprintduel­l zwischen Usain Bolt und dem alternden Ex-Doper Justin Gatlin – beider Leistungen kamen in all den Jahren immer wundersame­r daher – oder im Hammerwerf­en, wo der weißrussis­che Altdoper Iwan Tichon (39) nach Sperre sein Comeback wagt. Im Frauenspri­nt mit der dreimalige­n Olympiasie­gerin Veronica Campbell-Brown, die nach ihrem Diuretikum-Doping freigespro­chen wurde, oder in allen Läufen, an denen NOP-Athleten teilnehmen.

Die 66 Athleten starke deutsche Mannschaft – immerhin zwölf liegen in den Weltbesten­listen unter den Top sechs – peilt derweil Platz fünf in der Nationenwe­rtung an. Thomas Kurschilge­n, Sportdirek­tor des DLV, nimmt den Druck vom Team: „Das ist sicher ein immer schwierige­r zu realisiere­ndes Ziel in einem Sport, der sich immer weniger manipulati­onsfrei zu entwickeln scheint und damit keine Chancengle­ichheit mehr für die sauberen Athleten gewährleis­ten kann.“

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FOTO: DPA Ist seine Weste so weiß wie seine Zähne? Auch Doppel-Olympiasie­ger Mo Farah steht unter Verdacht.

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