Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Alles nur gedopt?
Vor der Weltmeisterschaft in Peking steckt die Leichtathletik in einer ihrer größten Krisen
m Grunde muss man sich den Weltsport und seine Dopingkontrollen wohl so vorstellen wie das Autofahren und die Sanktionen gegen Temposünder. Menschen sind zuweilen egoistisch, sie fahren gern schneller als erlaubt, sie haben es eilig, vor allem nachts, in der Zone 30. Sie bremsen nur dann, wenn sie festinstallierte Radarfallen sehen und hoffen inständig, dass sie nie mobil, also überraschend, geblitzt werden. Auch manche Athleten wissen, dass sie kaum kontrolliert werden, vor allem nicht nachts, vor allem nicht im Training, und ihr Gewissen kennt keine Stoppschilder: Sie dopen mit Mitteln, die nur Stunden nachweisbar sind, im Zweifel entziehen sie sich den Tests einfach. Handelt es sich um Sportler, die der eigene Verband zudem noch warnt oder vor Sanktionen schützt respektive um Athleten aus armen Ländern, die sich bei einem Olympiasieg nie mehr um ihre Zukunft sorgen müssen, steigt die Gefahr der Manipulation um ein Vielfaches an.
Dass Branchen wie der Radsport oder das Gewichtheben von Dopern verseucht sind, ist seit Langem bekannt. Dass in der Leichtathletik Zustände wie bei Sodom und Gomorrha herrschen, hatten sich Beobachter mit einem gesunden, also skeptischen Menschenverstand, ebenfalls gedacht: Es gibt olympische Sprintfinals, bei denen von acht Läufern sieben (vorher oder nachher) gedopt waren. Und doch erschüttern die täglich neuen Belege und Indizien, dass auch das Laufen, Springen und Werfen von einer Massenmanipulation betroffen ist, diese Sportart gerade in ihren Grundfesten. Wenn am Samstag im Pekinger Vogelnest, dessen Kapazität von 91 000 auf 55 000 Plätze reduziert wurde, die 15. Leichtathletik-WM beginnt, spricht kaum mehr einer von den Olympischen Spielen, die 2008 an gleicher Stätte eröffnet wurden. Und kaum einer mehr vom Smog und der Gesundheitsgefahr in der chinesischen Hauptstadt. Wieder werden Fa- briken für zehn Tage stillgelegt, wieder werden 50 Prozent der Autofahrer vom Verkehr ausgeschlossen. Doch alle sprechen von Doping.
Bei den Großereignissen zwischen 2001 und 2012 soll laut ARD-Recherchen jeder dritte Medaillengewinner in den Ausdauer-Disziplinen dopingverdächtige Blutwerte gehabt haben. Bei einer Umfrage der Uni Tübingen räumte 2011 vor der WM ein Drittel der Athleten ein, zu dopen. Die nun begonnenen Ermittlungen des Weltverbands IAAF gegen 28 Athleten, die bei der WM 2005 und 2007 auffällig wurden, erscheinen da nur als Tropfen auf den heißen Stein, zumal sie durch Aussagen der Führung konterkariert werden. Der scheidende Präsident Lamine Diack nennt die DopingBerichterstattung „hysterisch“, der Anti-Doping-Kampf der IAAF sei dagegen „außergewöhnlich“. Ob Nachfolger Sebastian Coe wirklich willens ist, den Sport vor Betrügern zu schützen, ist nun die Frage.
Wem kann man noch trauen, ist die andere. Russen, Kenianern oder den Läufern des umstrittenen Nike Oregon Projects (NOP) um DoppelOlympiasieger Mo Farah? Wohl eher nicht. Den Deutschen? Mutmaßlich schon. Einzig Weitspringer Kofi Amoah Prah (40), bereits vor sieben Jahren zurückgetreten, ist in der IAAF-Liste der 290 gesperrten Leichtathleten zu finden – wegen Kokainmissbrauchs. Deutsche, die dopen, laufen Gefahr, geächtet zu werden. Und reich werden sie bei Siegen auch nicht. Es wundert also nicht, dass sich im DLV mehr und mehr Sportler benachteiligt und betrogen fühlen und auf die Barrikaden gehen. „Ich will nicht, dass die Leichtathletik so endet wie der Radsport“, sagt Diskuswerferin Julia Fischer. „Manchmal hat man das Gefühl: Bei der IAAF sitzen Dinos, die glauben, dass man mit Geld und der Bezahlung der richtigen Leute alles erreichen kann. Das muss aufhören.“
Was die Leichtathletik unterscheidet vom Radsport: Hier sind es die Athleten selbst, die gegen die Verseuchung ihres Sports aufbegehren. Mit ihrem Freund, dem in Peking fehlenden Robert Harting, hat Fischer einen Video-Protest gegen den Weltverband gestartet. 800-Meter-Läufer Robin Schembera aus Leverkusen hält darin ein Schild hoch mit der Aufschrift: „Ich möchte gegen saubere Athleten laufen, nicht gegen Monster.“Auch Stars wie Stabhochspringer Renaud Lavillenie aus Frankreich oder der britische Weitspringer Greg Rutherford unterstützten die Aktion.
Die Deutschen wehren sich
Die Doping-Debatte wird bei dieser WM allgegenwärtig sein. Egal ob beim sonntäglichen Sprintduell zwischen Usain Bolt und dem alternden Ex-Doper Justin Gatlin – beider Leistungen kamen in all den Jahren immer wundersamer daher – oder im Hammerwerfen, wo der weißrussische Altdoper Iwan Tichon (39) nach Sperre sein Comeback wagt. Im Frauensprint mit der dreimaligen Olympiasiegerin Veronica Campbell-Brown, die nach ihrem Diuretikum-Doping freigesprochen wurde, oder in allen Läufen, an denen NOP-Athleten teilnehmen.
Die 66 Athleten starke deutsche Mannschaft – immerhin zwölf liegen in den Weltbestenlisten unter den Top sechs – peilt derweil Platz fünf in der Nationenwertung an. Thomas Kurschilgen, Sportdirektor des DLV, nimmt den Druck vom Team: „Das ist sicher ein immer schwieriger zu realisierendes Ziel in einem Sport, der sich immer weniger manipulationsfrei zu entwickeln scheint und damit keine Chancengleichheit mehr für die sauberen Athleten gewährleisten kann.“