Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Der Herrgottsbart wird rar gemacht
Der Große Wiesenknopf, die Blume des Jahres, ist langfristig in seinem Bestand bedroht
AUGSBURG (KNA) - Gewiss ist er ein Teil der Schöpfung – aber auch gleich des Schöpfers selbst? Zumindest im katholisch geprägten Süddeutschland sehen Pflanzenfreunde das so: Da heißt der Große Wiesenknopf auch Herrgottsbart. Der Name kommt von den bartartig aus den Blütenköpfchen herausstehenden Staubblättern, die den Pollen produzieren. Um diese zarten Stoppeln sehen zu können, muss man aber schon sehr genau hinschauen. Woher wiederum der offizielle Art-Titel stammt, erkennt man schon von ferne: Wie kleine Knöpfe scheinen die runden, roten Blütenstände des meist hüfthohen Gewächses zwischen dem Grün der Gräser zu schweben. Wenigstens da, wo es überlebt hat.
Denn nicht umsonst hat die Hamburger Loki-Schmidt-Stiftung den Großen Wiesenknopf zur Blume des Jahres 2021 erkoren. Sie will damit auf die „Probleme der Intensivierung der Grünlandwirtschaft aufmerksam machen“. Eine schonende Nutzung von Wiesen sei inzwischen selten, heißt es. Insbesondere feuchte bis nasse
Flächen, wie sie der Wiesenknopf brauche, seien zigfach verschwunden.
Früher wurde auf ihnen Heu gewonnen, wie die Stiftung erklärt. „Unter den heutigen Marktbedingungen sind sie unwirtschaftlich geworden. Stattdessen werden viele dieser Wiesen heutzutage intensiv beweidet, massiv entwässert oder zu Äckern umgestaltet.“Andernorts hätten Bauern die Pflege ganz aufgegeben. Die Folge: monotones Schilf- und Strauch-Gewucher.
Dabei sind extensiv genutzte Wiesen ökologisch überaus wertvoll, sie zählen zu den artenreichsten Lebensräumen hierzulande, wie die Stiftung betont. Die Kulturlandschaft Wiese habe über Jahrtausende einen Reichtum an Blüten und Strukturen hervorgebracht, der sie zu einem schützenswerten Teil Mitteleuropas mache. „Lebensräume wie diese zeigen, welch hohe Verantwortung wir übernehmen, wenn wir die Landschaft um uns herum überformen.“
Dem stimmt Ursula Higl zu. Die 56-Jährige aus Oberach bei Augsburg kommt selbst vom Bauernhof und arbeitet als Mesnerin und Kräuterpädagogin.
Als solche gibt sie ihr Wissen zum Beispiel regelmäßig vor dem Fest Mariä Himmelfahrt am 15. August weiter. „Dann werden Kräuterbuschen geweiht, um Segen zu erbitten. Maria gilt ja als große Blumenfreundin“, sagt Ursula Higl. „Bei diesen Buschen ist der Große Wiesenknopf traditionell ein wesentlicher Bestandteil.“
Auch in der Heilkunde und der Landküche spiele der Wiesenknopf eine Rolle, fügt Ursula Higl an. „Er ist bekannt für seine blutstillende, entzündungshemmende und entgiftende Wirkung sowie für seine frische und Vitamin-C-haltige Würze.“
Doch in deren Genuss werden künftig wohl immer weniger Menschen kommen. Denn dem Bundesamt für Naturschutz zufolge ist der Große Wiesenknopf auf dem absteigenden Ast, aktuell steht er auf der Vorwarnstufe der Roten Liste der bedrohten Arten. Langfristig werde der Bestand wohl stark zurückgehen.
Dabei ist der Große Wiesenknopf nicht nur für Brauchtum, Medizin und Küche wichtig, sondern auch für Schmetterlinge. Für zwei davon – den Hellen und den Dunklen Wiesenknopf-Ameisenbläuling
– ist die Blume sogar unverzichtbar. Wo sie nicht wächst, können die Tiere nicht überleben. Denn ihre Raupen fressen ausschließlich an dieser Pflanze. Und damit noch nicht genug der Exklusivität.
So sind die Falter nämlich noch auf einen zweiten Wirt angewiesen: Ameisen. Um zu ihnen zu gelangen, lassen sich die Raupen irgendwann von den Wiesenknöpfen zur Erde plumpsen und strömen einen speziellen Geruch aus. Dieser betört bestimmte Ameisenarten so sehr, dass sie die Raupen adoptieren und in ihren Bau schleppen. Dort angekommen, versorgen die Larven die Ameisen mit süßem Sekret aus ihren Honigdrüsen und vertilgen selbst Teile der Emsenbrut. Bei den Ameisen überwintern und verpuppen sich die Raupen auch. Im nächsten Sommer schließlich kriechen sie als frisch geschlüpfte Schmetterlinge aus dem Nest hervor. Verschwindet der Große Wiesenknopf, geht also mehr verloren als bloß ein eher unscheinbares Blümchen. Denn in der Natur ist so vieles eng verwoben und ganz fein aufeinander abgestimmt. Fein wie Haare aus dem Herrgottsbart.