Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Wettrennen gegen die Zeit
Was das Coronavirus zum Problem macht, ist die Geschwindigkeit der Ausbreitung
Von Ludger Möllers und unseren Agenturen
ULM - Verdoppelt sich in Deutschland die Zahl der am neuartigen Coronavirus Erkrankten pro Woche? Verdreifacht sie sich gar? Virologen können die Dynamik der Pandemie derzeit nicht exakt einschätzen. Doch bei beiden Rechenmodellen steigt die Zahl der Patienten innerhalb weniger Wochen auf Millionenzahlen an und dürfte das deutsche Gesundheitssystem an seine Grenzen bringen – falls es nicht gelingt, das Tempo der Ausbreitung zu verlangsamen.
Gerät die Zahl der Ansteckungen mit dem Coronavirus außer Kontrolle, könnte das deutsche Gesundheitssystem ins Wanken geraten. Für die meisten Infizierten verläuft die Krankheit zwar weitgehend harmlos, einige werden sie noch nicht einmal bemerken. Doch etwa 20 Prozent erkranken schwerer. Auf die Krankenhäuser könnten daher viele zusätzliche Patienten zukommen.
Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie der Berliner Charité, geht aktuell davon aus, dass ein Erkrankter im Schnitt drei andere Menschen infiziert. „Also in der ersten Woche einen, in der zweiten Woche drei, in der dritten Woche neun“, sagte er dem NDR. Die Zahl der Infizierten steigt exponentiell an. Bei einem exponentiellem Wachstum werden aus den derzeit 2000 Fällen in Deutschland dann nach vier Wochen, also in der Karwoche, 162 000 Fälle, nach acht Wochen, Anfang Mai, sind es mehr als 13 Millionen Fälle.
Nun sei die Frage: „Was muss passieren, damit das stoppt?“Ziel müsse sein, die Ansteckungsquote auf unter eins zu drücken – das heißt, dass jeder Infizierte nicht mehr als einen weiteren Menschen ansteckt. Erst dabb würde sich die Krankheit nicht weiter ausbreiten. Das passiert laut Drosten, wenn mindestens zwei von drei Menschen bereits immun gegen eine Ansteckung seien, also schon mal erkrankt waren. „Und zwei von drei sind eben 67 Prozent“, so Drosten.
Bei einer Gesamtbevölkerung von 83 Millionen wären zwei Drittel fast 56 Millionen Menschen, die sich infizieren müssten, bis die Ausbreitung stoppe. Bis dahin würden nach Drostens Hochrechnungen 278 000 Menschen sterben. Wenn sich das Virus aber nicht unkontrolliert, sondern durch etwa die Absage von Großveranstaltungen nur langsam ausbreitet, verteilen sich vor allem die schweren Fälle und sind so besser durch das Gesundheitssystem aufzufangen.
„Bei langsamer Verbreitung werden Corona-Opfer in der normalen Todesrate verschwinden“, sagte Drosten. Jedes Jahr würden in Deutschland durchschnittlich 850 000 Menschen sterben. Das Altersprofil sei ähnlich wie bei den Todesfällen durch das neue Virus. „Wir müssen das Ganze zeitlich strecken“, sagte Drosten. Bei einem Ausbruch einer Infektionskrankheit sei es wichtig, sich nicht nur auf die Anzahl der Fälle zu konzentrieren, sondern auch auf die Wachstumsrate, mit der die Anzahl der Fälle zunimmt. Die Wachstumsrate sei eine wesentliche Messgröße zum Verstehen und Überwachen. Dies liegt daran, dass eine schnelle Wachstumsrate schnell zu sehr großen Zahlen führen könne, selbst wenn die derzeitige Anzahl von Fällen und Todesfällen im Vergleich zu anderen Krankheiten gering sei.
Julien Riou, Epidemiologe der Universität Bern, rechnet mit einer etwas optimistischeren Annahme. Rasant ist der Anstieg aber auch bei seinem Rechenmodell. Er geht davon aus, dass ein Coronavirus-Infizierter im Durchschnitt nur zwei weitere Menschen ansteckt. Bei einem exponentiellen Wachstum würde sich deren Zahl mit jeder Ansteckungsrunde stets verdoppeln. In vier Wochen, kurz vor Ostern, wären nach diesem Modell 32 000 Menschen erkrankt, nach acht Wochen wären es eine halbe Million Patienten. Pfingsten, nach elf Verdopplungen, wären vier Millionen Menschen vom Coronavirus befallen.
Es gehe „um das Gewinnen von Zeit“, sagte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) über die Strategie im Umgang mit dem Virus. Deshalb sei es wichtig, den Anstieg mit Einschränkungen wie dem Verbot von Großveranstaltungen, dem Ausschluss von Fans aus den Fußballstadien und der Schließung von Schulen zu drosseln.
Trotz des derzeit rasanten Anstiegs der Fallzahlen zeigt sich die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) optimistisch: „Wir sind früh dran, wir haben von den anderen Ländern wie Italien gelernt“, sagt DKG-Präsident Gerald Gaß. Bislang sei es gelungen, die infizierten Menschen genauer zu erfassen, als dies in anderen Ländern der Fall sei. Deshalb seien anders als in Italien auch erst wenige Menschen gestorben. „Wenn man die Gegenmaßnahmen konsequent weiterführt, dann kann es gelingen, den Anstieg der Erkrankungszahlen abzuflachen.“
In deutschen Krankenhäusern stehen laut Statistik rund eine halbe Million Betten, etwa jedes vierte ist im Jahresdurchschnitt nicht belegt. „Wenn wir nun davon ausgehen, dass sich jeder zweite Mensch in Deutschland irgendwann mit dem Virus infiziert, ist es wichtig, ihre Zahl so gut wie möglich zu strecken“, sagt Gaß. Möglich sei dies auch, indem Kliniken weniger notwendige Operationen auf einen späteren Zeitpunkt verschöben und infizierte Ärzte und Pfleger im Notfall sogar weiter arbeiteten, sofern sie keine Symptome zeigten. „Gelingt das zum Beispiel durch den starken Eingriff der Politik, dann bin ich überzeugt, dass wir gut gerüstet sind“, sagt Gaß.