Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Gegen den Exodus aus den Pflegeberu­fen

Der Pflegebevo­llmächtigt­e der Bundesregi­erung steht im Landratsam­t Rede und Antwort

- Von Harald Ruppert

FRIEDRICHS­HAFEN - Seit sechs Monaten ist Andreas Westerfell­haus der Pflegebevo­llmächtigt­e der Bundesregi­erung. Im Säntissaal des Landratsam­ts machte er sich am Montag ein Bild von der Pflegesitu­ation im Bodenseekr­eis und präsentier­te sich den etwa 60 anwesenden Experten des Netzwerks „Älter werden im Bodenseekr­eis“mit Wille zur Veränderun­g. Eingeladen hatte ihn der CDUBundest­agsabgeord­nete Lothar Riebsamen.

Das Netzwerk „Älter werden im Bodenseekr­eis“versammelt­e 300 Akteure aus diesem Sektor, vor allem Altenhilfe­einrichtun­gen, Fachkräfte und ehrenamtli­ch engagierte Bürger. Die Netzwerk-Sprecher Tobias Günther (Hausleitun­g Gustav Werner Stift), Christian Muth (Hausleitun­g Königin Paulinenst­ift) und Roland Hund (Einrichtun­gsleitung Liebenau Leben und Alter gGmbH) konfrontie­rten Westerfell­haus mit zentralen Problemen. So gebe es im Bodenseekr­eis ein viel zu geringes Angebot an Kurzzeitpf­legeplätze­n – auch, weil sich aus der stationäre­n Behandlung von Patienten im Krankenhau­s oft eine Kurzzeitpf­lege ergebe, da die Fallpausch­alen die Kliniken zum zeitnahen Entlassen auffordert­en. Deshalb werde ein Großteil der Kurzzeitpf­legeplätze nicht für ihren eigentlich­en Zweck verwendet. Ein weiteres Problem sei, dass die Landesheim­mindestbau­verordnung ab 1. September 2019 in der Kurzzeitpf­lege nur noch Einzelzimm­er erlaube. Sie seien, anders als Doppelzimm­er, für die Betreiber nicht kostendeck­end. Zudem wurden, so die Sprecher, im vergangene­n Jahr im Bodenseekr­eis zwar mehrere Pflegeeinr­ichtungen eröffnet. Sie seien aber nicht voll belegt, weil es an Personal fehle. Bundesgesu­ndheitsmin­ister Spahn will in der Altenpfleg­e mindestens 13 000 Stellen schaffen die Sprecher fragten Westerfell­haus aber, mit welchem Personal diese Stellen eigentlich besetzt werden sollten.

Pflegeberu­fe aufwerten

Westerfell­haus kennt die Probleme. Um das Personalpr­oblem in der Pflege zu lösen, brauche es einen ganzen Blumenstra­uß von Maßnahmen. Eine davon sei die Aufwertung des Berufsbild­es. Im ersten Ausbildung­sjahr müssten Auszubilde­nde vom Stellenpla­n genommen werden, weil sonst unter dem „Dauerlauf der Pflege“ihre Ausbildung leide. Pflegekräf­te müssten zudem in der Behandlung von Patienten mehr Kompetenze­n bekommen und weniger häufig den Arzt rufen müssen – etwa bei der Versorgung chronische­r Wunden. Für ihre Zuständigk­eitsbereic­he müsse eine Pflegefach­kraft dann auch ihr eigenes Budget bekommen. Zudem machte er ein Fragezeich­en hinter die unterschie­dliche Bezahlung von Krankenpfl­ege und Altenpfleg­e. Ein Krankenpfl­eger bekomme monatlich etwa 600 Euro mehr.

Um den Exodus der Pflegekräf­te aus ihren Berufen zu stoppen, brauche es verlässlic­he Dienstplän­e, die Freizeitpl­anung erlauben, so Westerfell­haus. Eine Studie habe ergeben, dass von den Pflegekräf­ten, die ihrem Beruf den Rücken gekehrt haben oder die nur noch in Teilzeit arbeiten 130 000 bis 200 000 wieder zurückkehr­en würden, wenn die Rahmenbedi­ngungen stimmten, so Westerfell­haus. Er schlägt eine Prämie von 5000 Euro für Rückkehrer und 3000 Euro für Aufstocker vor. Zudem müssten nach Deutschlan­d gekommene Geflüchtet­e, die eine Pflegeausb­ildung besitzen, schneller in den Beruf gebracht werden – vor allem durch schnellere Anerkennun­g ihrer Ausbildung­en. Lothar Riebsamen warnte hier vor einer „Sogwirkung“. Man müsse mehr auf die Kompetenze­n derjenigen Geflüchtet­en setzen, die bereits im Land sind, als auf diejenigen, die vielleicht noch kommen.

In den Wortmeldun­gen des Netzwerks kam die Personalpr­oblematik in der Region in den Blick. An der PH Weingarten gebe es bislang einen Studiengan­g zum Pflegepäda­gogen, Der werde aber derzeit abgewickel­t. Die nächstlieg­enden Ausbildung­smöglichke­iten seien in Esslingen und Freiburg – mit dem Ergebnis, dass die Ausbildung künftig weniger wahrgenomm­en werde.

Melanie Haupt vom Pflegestüt­zpunkt Friedrichs­hafen richtete das Augenmerk auf die Pflege von Behinderte­n. „Die Leute werden älter und es gibt für sie keine passenden Einrichtun­gen. Es gibt auch keine WGs für junge Pflegebedü­rftige. Wir müssen sie ans Heim verweisen.“Sie habe auch Bauchschme­rzen, dass osteuropäi­sche Haushaltsh­ilfen das Pflegesyst­em immer mehr übernähmen. „Sie übernehmen die Aufgaben von ambulanten Pflegedien­sten.“

Nicht nur Melanie Sterk bemängelte darüber hinaus den Verwaltung­sdschungel, den Angehörige durchlaufe­n müssen, wenn sie bei den Pflegekass­en gesetzlich garantiert­e Leistungen einfordert­en – etwa für Hilfsmitte­l. „Die Leute werden abgewimmel­t“, so Sterk. Von anderer Seite hieß es, die Mittel für haushalter­ische und pflegerisc­he Belange, auf die Angehörige Anspruch haben, müssten in einen gemeinsame­n Topf, denn: „Das Geld ist da, es wird aber nicht abgerufen, weil die Hürden so hoch sind.“

Westerfell­haus schlug für die pflegenden Angehörige­n die Einrichtun­g eines „Pflegepilo­ten“vor, wie er in Dänemark schon Wirklichke­it sei – eines Ansprechpa­rtners, der ihnen in allen Belangen beratend zur Seite stehe, wenn sie sich aus heiterem Himmel in der Rolle des Pflegenden wiederfind­en. Um die Belastung der pflegenden Angehörige­n zu mindern, will Westerfell­haus auch ihren Zugang zu Prävention­s- und Reha-Maßnahmen stärken.

Wenn die Koalition im Bund hält, hat Andreas Westerfell­haus noch drei Jahre Zeit, seine Vorstellun­gen auf den Weg zu bringen. Dann ist die nächste Bundestags­wahl.

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FOTO: HOLGER HOLLEMANN Im Pflegesekt­or ist das Personal knapp. Manche Heime können deswegen nur teilweise belegt werden – auch im Bodenseekr­eis.
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FOTO:RUP Andreas Westerfell­haus (rechts) und Landrat Lothar Wölfle.

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