Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Rätselraten ums Insektensterben
Ausgerechnet die angestrebte Energiewende steht im Verdacht, erheblich zum Artenschwund beizutragen – Wasserkraft im Fokus
GARMISCH-PARTENKIRCHEN - Seit zwei Wochen ist das Insektensterben ein Thema in den Massenmedien. Dabei sind die Probleme seit vielen Jahren bekannt – und keineswegs allein der modernen Landwirtschaft geschuldet. Maßgeblich beteiligt sind ebenso die Folgen der sogenannten Energiewende. Etwa durch Energiepflanzenanbau und Kraftwerksnutzung bisher intakter Fließgewässer – wie ganz aktuell im bayerischen Oberland.
Schon im Jahr 2013 versuchten ehrenamtliche Insektenkundler aus Nordrhein-Westfalen eine breite Öffentlichkeit wachzurütteln. Aber zunächst blieben die Alarmsignale einer Forschergruppe um den Krefelder Biologen Martin Sorg weitgehend ungehört. Oder sie wurden mit dem Wort „Hobby-Forscher“ins Lächerliche gezogen.
Weckruf der „Hobby-Forscher“
Nun lacht niemand mehr: Namhafte europäische Wissenschaftler haben den alarmierenden Anfangsverdacht aus Krefeld auf breiterer Basis untersucht und bestätigen: Bis zu 80 Prozent der Biomasse, die Insekten in den natürlichen Nahrungskreislauf einbringen, sind binnen drei Jahrzehnten verloren gegangen. Das könnte zu guten Teilen das voranschreitende Verschwinden vieler Vogelarten erklären und gehört ganz ohne Zweifel zu den Ursachen rasch sinkender Fischbestände in Seen und Fließgewässern.
Zu den wahren Überraschungen gehört, dass die Zahlen der Krefelder Freizeit-Entomologen, die als ausgewiesene Fachleute das Wort „HobbyForscher“beleidigend empfinden, bis in die jüngste Vergangenheit das Beste waren, was die Wissenschaft auf diesem Gebiet zu bieten hat. Jetzt, nachdem die höchst beunruhigende Angelegenheit richtig Schlagzeilen machte, wird es wohl mehr Forschungsgelder geben zur Erkundung von Tieren, die den meisten Menschen eher lästig sind.
Nahrungskette destabilisiert
Zum Beispiel die heute eher seltenen Eintagsfliegen von der Familie der Ephemeriden. Die größten dieser „Maifliegen“heißen Ephemera Danica und werden bis zu fünf Zentimeter lang. Noch in den Nachkriegsjahren waren sie so häufig, dass ihre Leiber auf den Straßen mancherorts für Rutschgefahr sorgten und Bauern die Tiere als Futter für die Schweine zusammenkehrten.
Heute ist die Danica ein eher seltenes Tier wie die etwas kleinere Ephemera Vulgata. Die meisten Menschen wissen nicht, dass diese Insekten bis zu zwei Jahre lang unter Wasser leben und erst danach für wenige Tage zu ihrem Hochzeitsflug Seen und Flüsse verlassen. Dann beginnt das große Fressen für zahlreiche Vogelarten, aber auch für Fledermäuse – und natürlich auch für Fische, denen die Maifliegen schon im Larvenstadium eine wichtige Nahrungsquelle sind.
Beispiele für solche Nahrungsketten gibt es viele – bis hin zur Waldameise, an der sich sogar Bären gerne gütlich tun, und seltene Vögel wie das Birkhuhn. Und natürlich die Bienen, ohne deren Bestäubungsarbeit kaum Pflanzen gedeihen könnten auf unserem Planeten. Ihr schleichendes Aussterben sorgte schon etwas früher für Betroffenheit als das Verschwinden anderer Insektenarten – aber auch solcher Verlust wäre ohne die Arbeit der Profi- und Hobby-Im- ker wohl weitgehend unbemerkt geblieben.
Mittlerweile gibt es zumindest stärkere öffentliche Aufmerksamkeit – und reichlich wohlfeile Beißreflexe. Vor allem die Landwirtschaft betreffend und deren Chemikalien-Einsatz. Wobei gerne übersehen wird, dass die Krefelder Insektenkundler ihre Untersuchungen ausschließlich in Schutzgebieten ohne landwirtschaftliche Nutzung anstellten. Entsprechend vorsichtig sind bisher ausgewiesene Experten mit solchen Schuldzuweisungen in Richtung Bauern. Erst einmal sei weitere Forschung auf diesem bisher kaum erkundeten Feld nötig.
Leidlich gesichert scheint lediglich der Verdacht, dass die enorme Ausweitung der Maisanbauflächen im Zuge der Energiewende den Bienen das Leben vielerorts schwer ge- macht hat. Mais braucht die Bienen nicht, um sich zu vermehren, und er bietet ihnen deshalb keine Nahrung. Ebenso klar ist, dass die Öko-Energie Wasserkraft im Wasser aufwachsende Insekten bedroht, weil Staudämme und Turbinen die Fließgeschwindigkeit von Bächen und Flüssen bremsen und so den Gewässergrund verändern.
Wasserkraft mit Nebenwirkungen
Professor Jürgen Geist, GewässerBiologe an der Technischen Universität München, warnte schon vor Jahren, ohne spürbare Resonanz aus der Politik: „Dämme und Wehre wirken sich stärker auf das Ökosystem von Fließgewässern aus als bisher bekannt. Die Artenvielfalt geht im Staubereich oberhalb der Querbauten stark zurück: Bei Fischen liegt sie durchschnittlich um ein Viertel, bei Kleinlebewesen zum Teil sogar um die Hälfte niedriger.“
Aktuell ist Professor Geist damit beschäftigt, die Auswirkungen des jüngsten bayerischen Vorzeigeprojekts der Wasserkraftnutzung zu untersuchen: Diesen Monat vollführt Wirtschaftsministerin Ilse Aigner den ersten Spatenstich für ein sogenanntes Schachtkraftwerk an der jetzt noch weitgehend natürlich fließenden Loisach. Bisher gibt es dort in einem europäischen FFH-Schutzgebiet noch Maifliegen und die ebenfalls seltenen Köcherfliegen.
Was aus den Loisach-Insekten wird, muss sich zeigen, wenn der Fluss nicht mehr die Kraft hat, um den Schlamm aus den Kiesbänken zu spülen, die „Kinderstube“für die Insektenlarven sind. Ebenso die Antwort auf die Frage, ob sich seltene Fische wie Äsche und Huchen dann noch fortpflanzen. Mit der Grünlandwirtschaft entlang der Loisach sind Fische und Fliegen bisher leidlich klargekommen. Ob sie auch die Energiewende überleben, ist zumindest ungewiss.
Vergeblich geklagt hat gegen den Kraftwerksbau an der Loisach neben dem Landesfischereiverband auch der Bund Naturschutz. Wegen der Gefahren für ganze Nahrungsketten und das damit verbundene Artensterben. Die Zusammenhänge zwischen Insektenschwund und dem Verschwinden vieler Vogelarten, heißt es beim Bund, seien viel zu wenig erforscht. Aber es gibt auffällige Gemeinsamkeiten: In den zurückliegenden zwölf Jahren zeigte neben den Insekten auch ein Drittel der in Deutschland noch vorkommenden Brutvogelarten „signifikante Bestandsabnahmen“.