Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Die Weltgeschichte, ein Puppenspiel
Bregenzer Festspiele: „Moses in Ägypten“von Rossini im Festspielhaus begeistert aufgenommen
- Gioachino Rossinis dreiaktige Oper „Mosè in Egitto“wird selten szenisch aufgeführt. Mit gutem Grund haben viele Komponisten den biblischen Bericht über den Gesetzgeber Moses lieber oratorisch vertont. Händels „Israel in Egypt“und Max Bruchs „Moses“sind bekannte Beispiele. Und Schönbergs Oper „Moses und Aaron“blieb nicht von ungefähr unvollendet. Bei den Bregenzer Festspielen hat man sich nun an Rossinis Vertonung gewagt. Die von Lotte de Beer inszenierte Produktion im Festspielhaus wurde bei der Premiere mit Beifallsstürmen gefeiert.
Dass die Geschichte vom Exodus des Volkes Israel aus Ägypten, von der Flucht durch die Wüste und der Überquerung des Roten Meers, in dem die Verfolger ertrinken, bei allen Unterschieden auch an die hochaktuelle Flüchtlingsthematik unserer Tage rührt, ist nicht von der Hand zu weisen. Für Lotte de Beer werfen derlei Parallelen zeitlose Fragen der Menschheitsgeschichte auf. In Bregenz übernimmt das niederländische Theaterkollektiv „Hotel Modern“die Aufgabe, diese Fragen in den von Christof Hetzer (Bühne und Kostüme) gestalteten Raum zu stellen.
Entstehung ist Teil der Show
Während die Darsteller in einem provisorisch mit Wüstensand drapierten Ambiente quasi ein harmlos scheinendes Laienspiel proben, sind auf riesiger Leinwand dahinter auch grausame Szenerien zu sehen. Hausruinen einer orientalischen Stadt lassen an das zerbombte Aleppo denken. Lange, teils absichtlich verwackelte Kamerafahrten führen langsam durch Straßenzüge, in denen verhungerte Kinder und von Bauschutt erschlagene Erwachsene liegen, oder über Wüstendünen mit Rinderkadavern. Doch all diese Figuren sind erkennbar als Puppen aus Draht, Stoffresten und Knetmasse.
Der Entstehungsprozess der drastischen Bilderfolgen ist gleichzeitig Teil der Show. Die Mitglieder von „Hotel Modern“agieren wie Bühnenarbeiter auf der Szene und filmen detailliert modellierte Miniaturwelten ab. Die so gewonnenen Videosequenzen werden in Vergrößerung auf die Leinwand projiziert. Auch Sänger, Chorleute und Statisten müssen sich wie Marionetten herumschieben und zu lebenden Bildern arrangieren lassen. Bei de Beer kommt den Puppenspielern die Rolle von Göttern zu, die in ihrem Laboratorium experimentieren.
Auf diese Weise wird die Problematik szenischer Umsetzung heikler Stellen elegant gelöst, mit denen sich selbst der versierte Musikdramatiker Rossini zunächst die Finger verbrannte. Das als Azione tragico-sacra bezeichnete Stück erntete bei der Uraufführung 1818 in Neapel fröhliches Gelächter, weil bei der Teilung der Wasser des Roten Meers die Erhabenheit der Musik in unfreiwilliger Komik unterging. Erst die Zweitfassung mit dem berühmten Gebet des Moses machte das Werk populär. Doch auch in Bregenz braucht es seine Zeit, bis die Konzeption mit „Hotel Modern“greift.
Nach anfänglichen Längen der Inszenierung ergreift besonders das Kammerspiel mit Osiride, dem Sohn Pharaos, der in die Hebräerin Elcia verliebt ist. Der koloraturensichere Tenor Sunnyboy Dladla und die stimmstarke Sopranistin Clarissa Costanzo zelebrieren das geniale Duett im zweiten Akt als intime Hymne an die Utopie einer vor Menschen und Göttern verborgenen Liebe. Solch emotionalen Momenten stehen stilisierte, fast mechanisch abstrakte Partien der Musik gegenüber, die eine völlig konträre szenische Ästhetik verlangen. Den Zusammenprall beider Stile nutzt de Beer gelegentlich auch zu humorvoller Personenführung.
Enrique Mazzola bringt Rossinis Fülle an melodischem Reichtum, Orchesterfarben und speziellen Effekten klar und mit sensationeller dynamischer Abstufung auf den Punkt. Die Wiener Symphoniker spielen kultiviert, elastisch und mit der hier unabdingbaren Italianità. Grandioses Klangtheater bieten vor allem die zahlreichen, mannigfaltig eingesetzten Bläser samt zusätzlicher Bühnenmusik, die von einem Ensemble des Vorarlberger Landeskonservatoriums brillant bestritten wird.
Perfekt gelingt die Koordination mit dem fabelhaft singenden Prager Philharmonischen Chor (Einstudierung: Lukás Vasilek) und den Solisten. Goran Juric lässt als selbstsicherer Moses seinen Bass wie flüssige Bronze strömen. Mandy Fredrich vom Ensemble der Stuttgarter Oper meistert den virtuosen Part der Amaltea souverän. Andrew FosterWilliams (Faraone), Matteo Macchioni (Aronne), Taylan Reinhard und Dara Savinova können belkantistisch überzeugen.