Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Neue Stufe der Gewalt

Eine seit zehn Tagen anhaltende Anschlagss­erie verunsiche­rt Israelis und Palästinen­ser

- Von Inge Günther und unseren Agenturen

- Nur Minuten lagen zwischen den zwei tödlichen Attentaten, die Jerusalem am Dienstagvo­rmittag in eine Stadt der Angst versetzten. Erst griffen zwei Palästinen­ser in einem Bus Passagiere mit einer Schusswaff­e und einem Messer an. Ein 60-jähriger Israeli starb auf der Stelle, ein 45-Jähriger erlag seinen Verletzung­en im Krankenhau­s, verwundet wurden 16 Menschen. Die beiden Terroriste­n wurden von der Polizei niedergesc­hossen. Wenig später rammte ein weiterer Palästinen­ser in einem religiösen jüdischen Viertel unweit des Stadtzentr­ums seinen Wagen in eine Wartemenge. Auch hier gab es ein Todesopfer, der Amokfahrer wurde gefasst.

Die seit zehn Tagen andauernde­n Anschläge markieren eine neue Phase der Gewalt. Aber auch die Messeratta­cken gehen weiter. In Ra’anana stach am Dienstag ein Mann auf vier Passanten ein, bevor Umstehende den Täter überwältig­ten und zusammensc­hlugen. Wie aufgeheizt die Stimmung inzwischen ist, zeigte ein Vorfall unweit von Haifa. Dort stach ein jüdischer Israeli auf einen anderen Juden ein, den er wegen seines orientalis­chen Äußeren für einen Araber gehalten hatte.

Vor allem aber macht sich bei vielen Israelis die Panik breit, jederzeit und überall mit Angriffen rechnen zu müssen. Die israelisch­e Opferstati­stik ist zwar vergleichs­weise niedrig. Sieben Menschen verloren im Oktober durch palästinen­sische Attentate ihr Leben, weniger als in der zweiten Intifada (2000 bis 2004) bisweilen bei einem einzigen Selbstmord­anschlag. Aber angesichts der ständigen Messeratta­cken – 20 in sechs Tagen – geht das Gefühl persönlich­er Sicherheit verloren. Israelisch­e Notrufzent­ralen melden einen dramatisch­en Anstieg verängstig­ter Anrufer.

Versionen gehen oft auseinande­r

Weit höher noch ist die Zahl der von Israelis getöteten Palästinen­ser: es sind 28. Allerdings gehen oftmals die Versionen völlig auseinande­r, wer Opfer und wer Täter ist. Schockiert berichtete­n etwa israelisch­e Medien, ein 13-Jähriger sei von zwei gleichaltr­igen palästinen­sischen Jungs niedergest­ochen worden, als er am Montag auf seinem Fahrrad durch die Jerusaleme­r Siedlung Pisgat Zeev kurvte. Der eine Täter sei erschossen worden, der andere vor ein Auto ge- laufen. Die palästinen­sische Seite wiederum behauptete, Siedler hätten die beiden Jungs umgebracht.

So oder so, die Angreifer, unter ihnen eine Reihe Minderjähr­ige, aber auch junge Frauen und Studenten, müssen davon ausgehen, dass sie ihre Tat in etwa 50 Prozent der Fälle mit dem Leben bezahlen. Insofern ähneln sie Selbstmord­attentäter­n, allerdings scheinen sie auf eigene Faust zu agieren. Im Unterschie­d zu den von der Hamas rekrutiert­en Attentäter­n, die sich früher in israelisch­en Bussen oder vollbesetz­ten Cafés in die Luft sprengten, gehörten die bisherigen Messerstec­her keiner Organisati­on an.

Aufenthalt­sverbote sollen helfen

„Was sollen noch so viele Razzien und Festnahmen bewirken, wenn die ,Terrorinfr­astruktur’ aus Teenagern besteht, die sich mit Küchenmess­ern bewaffnen“, wandte „Haaretz“-Kommentato­r Amos Harel ein und bezeichnet­e die Attentäter als „einsame Wölfe“. Israels Polizei soll mit einem umfassende­n Konzept die Lage unter Kontrolle bringen. Erste Konsequenz: Aufenthalt­sverbote für Dutzende von Juden und Palästinen­sern. Man habe 54 jüdische Israelis und 62 Muslime identifizi­ert, die die öffentlich­e Ordnung gefährdete­n und sich deshalb von bestimmten Orten fernhalten müssten, erklärte Vize-Polizeiche­f Bentzi Sau vor dem Innenaussc­huss des Parlaments.

Ministerpr­äsident Benjamin Netanjahu rief das Sicherheit­skabinett ein. Einige Minister sprachen sich vorab dafür aus, die palästinen­sischen Gebiete zu verriegeln. „Wir sollten die Palästinen­ser nicht reinlassen. Das Leben unserer Bürger hat Vorrang“, verlangte ebenso Jerusalems Bürgermeis­ter Nir Barkat. Jerusalem, wo die meisten Attentate geschahen, ist jedoch eine gemischte Stadt mit über einem Drittel arabischer Bevölkerun­g. Baustellen, Hotels und Restaurant­s kämen zum Stillstand, wenn die palästinen­sischen Arbeiter ausgesperr­t würden.

Genau besehen hat Netanjahu, der gerne als „Mr. Security“glänzt, wenig zu bieten, was die Gewaltwell­e eindämmen könnte. Ein politische­r Lösungsver­such gehört jedenfalls nicht dazu. So sagte das Nahostquar­tett, in dem UN, USA, EU und Russland vertreten sind, seinen für diese Woche geplanten Besuch in Jerusalem und Ramallah ab. Als Begründung verlautete, Netanjahu halte „das Timing“für unpassend.

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FOTO: DPA Spuren der Verwüstung: Zwei Palästinen­ser hatten in einem Bus Passagiere mit einer Schusswaff­e und einem Messer angegriffe­n.

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