Ein klares Jein zu Homöopathie und Gentechnik
Grüne verabschieden neues Grundsatzprogramm – Parteichef Habeck bekräftigt Führungsanspruch nach der Bundestagswahl
● STUTTGART/BERLIN - Teuro war das Wort des Jahres, Blackberry brachte das erste Smartphone auf den Markt und die Grünen starteten im Bund in eine zweite Regierungszeit mit der SPD: Das war 2002. Im selben Jahr haben die Grünen ihre Überzeugungen im dritten Grundsatzprogramm festgeschrieben. Übers Wochenende hat sich die Ökopartei nun ein Update verpasst – mit teils überraschenden Ergebnissen.
Zweieinhalb Jahre lang haben die Grünen ein neues Grundsatzprogramm erarbeitet, in drei Tagen haben rund 800 Delegierte über den Inhalt und manche der 1300 Änderungsanträge digital abgestimmt – und schließlich verabschiedet. Das geplante Treffen in Karlsruhe – dem Ort, wo sich die Ökopartei vor genau 40 Jahren gründete – wurde wegen der Corona-Pandemie ins Internet verlagert. Nur die Parteispitze kam im Berliner Tempodrom zusammen.
Zum Abschluss des digitalen Parteitags macht Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) in seiner Videobotschaft am Sonntag klar, warum ein neues Grundsatzprogramm nötig ist. „Jede demokratische Partei ist gut beraten, von Zeit zu Zeit zu reflektieren, worin die Herausforderungen bestehen und ob die Antworten noch stimmen.“Denn: „Die Gesellschaft und das Land haben sich verändert in den letzten 40 Jahren – und wir uns auch.“
Letzteres zeigt sich nicht nur an der Mitgliederzahl, die sich seit 2002 auf 100 000 verdoppelt hat, sondern vor allem an den Inhalten. „Wir sind keine Öko-App einer anderen Partei“, sagt Kretschmann. Das betont Bundesgeschäftsführer Michael Kellner gleich zu Beginn des Parteitags: „Wir sind weder eine konservative, noch eine liberale oder sozialdemokratische Partei. Wir sind mittlerweile die stärkste Kraft links der Mitte.“Parteichef Robert Habeck leitet davon einen Führungsanspruch ab. Sein Ziel: eine Regierungsbeteiligung nach der Bundestagswahl 2021. „Wir kämpfen um die Macht“, sagt er am Samstag. „Macht, das ist in unserem Kosmos oft ein Igitt-Begriff gewesen.“Aber: „Macht kommt von Machen!“
Bereits zu Beginn der Konferenz am Freitagabend erklärt Habecks CoVorsitzende Annalena Baerbock, warum die Grünen regieren sollen. „Wir dürfen den Status quo nicht zementieren.“Um eine Klimakatastrophe abzuwenden blieben noch 30 Jahre, betont sie. Dann dürften keine fossilen Brennstoffe mehr genutzt werden. „Es geht nicht um ein bisschen weniger CO2, sondern um Null-Emissionen“, sagt sie. „Diese Klimarevolution ist in etwa so verrückt wie ein Bausparvertrag.“Klimaschutz sei purer Selbstschutz der Menschheit.
Ein Streitpunkt hierzu wird erst während des Parteitags abgeräumt: Mitglieder drängten, im Grundsatzprogramm eine Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu verankern. So klar formuliert war der Vorschlag der Parteispitze nicht. Am Samstag twittert Baerbock einen Kompromiss. Im Wortlaut heißt es nun: „Zentrale Grundlage unserer Politik ist das Klimaabkommen von Paris sowie der Bericht des Weltklimarates zum 1,5-Grad-Limit, der verdeutlicht, dass jedes Zehntelgrad zählt, um das Überschreiten von relevanten Kipppunkten im Klimasystem zu verhindern. Es ist daher notwendig, auf den 1,5-Grad-Pfad zu kommen. Dafür ist unmittelbares und substanzielles Handeln in den nächsten Jahren entscheidend.“
In ihren Reden richten sich die Grünen-Chefs an alle – von Stadt bis Land, von „Kumpel bis Handwerkerin“, wie Baerbock sagt. „Veränderung ist nicht für jeden eine Verheißung, sondern für einige auch eine Zumutung.“Und auch Habeck formuliert den „Anspruch, die Breite der Gesellschaft anzusprechen“. Denn: „Erstmals kämpft eine dritte Partei ernsthaft um die Führung des Landes. Ich weiß, es ist ein kühner Anspruch, vielleicht ein frecher.“
Was die Grünen verheißen, ist ein Umbau der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland zu einer ökologischsozialen Marktwirtschaft. Jeder müsse am Wohlstand teilhaben können, nicht nur wenige, sagt Baerbock. Sie spricht vom Recht auf Arbeit und Weiterbildung, soziale Sicherheit, gesellschaftliche Teilhabe und Zukunftsinvestitionen in die Daseinsvorsorge und Bildung.
Gerade beim letzten Punkt gehen die Mitglieder weiter als der Bundesvorstand. Die Delegierten folgen einem Antrag der Grünen Jugend und beschließen kostenlosen Zugang zu Kitas und Schulen für alle sowie
Lernmittelfreiheit „einschließlich digitaler Endgeräte, benötigter Software und Internetzugang“.
In manchen Bereichen bleiben die Grünen progressiv. So wollen sie als erste Partei einen vielfaltspolitischen Sprecher im Bundesvorstand benennen. In ihrer Satzung wollen die Grünen ein Vielfaltsstatut verankern – so wie sie als erste Partei 1986 die Stärkung von Frauen verankert hat.
Wie sehr sie sich verändert haben, zeigen die Grünen an anderen Beschlüssen. Bundesweite Volksentscheide als Ausdruck direkter Demokratie werden abgelehnt. Aus dem ehernen Nein zur Gentechnik in der Landwirtschaft wird nun ein Jein. Hierbei sei die „Freiheit der Forschung zu gewährleisten“, heißt es nun im Grundsatzprogramm. „Nicht die Technologie, sondern ihre Chancen, Risiken und Folgen stehen im Zentrum.“Bei der Anwendung müssten Gefahren ausgeschlossen werden. Strenge Zulassungsverfahren, das Vorsorgeprinzip, Risikoprüfungen und eine Regulierung seien nötig.
Für einen Mittelweg entscheidet sich die Partei auch bei der umkämpften Frage, ob Homöopathie von den Krankenkassen bezahlt werden soll – ohne dabei die umstrittene Heilmethode zu nennen. Der abgestimmte Text besagt nun, dass die Kassen Leistungen übernehmen sollen, „die medizinisch sinnvoll und gerechtfertigt sind und deren Wirksamkeit wissenschaftlich erwiesen ist“.
Entgegen dem Vorschlag der Parteispitze streben die Grünen ein bedingungsloses Grundeinkommen an. Die Delegierten stimmen für eine Passage, die besagt: „Verdeckte Armut wird überwunden. Dabei orientieren wir uns an der Leitidee eines bedingungslosen Grundeinkommens.“Zunächst soll aus Hartz IV aber eine Garantiesicherung werden, wie es die Parteispitze vorgeschlagen hatte. Diese soll aber nicht bedingungslos ausbezahlt werden.
Einer Debatte stellt sich die streitfreudige Partei aber nicht: Wer soll die Grünen an die Macht führen? Habeck? Oder doch Baerbock? Zur Kanzler-Frage bleibt es am Wochenende ohrenbetäubend still.