„Jedes Kind verdient es, dass man über es spricht“
Antonie Hartmann-Striebel über ihre Motivation, ein Buch über die Bildungspolitik zu schreiben
LAUPHEIM - Sie möchte Kindern die Zeit und Zuwendung geben, die sie für ihre Entwicklung brauchen: Antonie Hartmann-Striebel ist Lehrerin aus Leidenschaft. Seit 44 Jahren arbeitet sie im Beruf. Es macht sie glücklich, wenn sie einen Schüler auf der Straße trifft, er laut ihren Namen ruft und sagt: „Mama, schau, das ist meine Lehrerin!“Der Laupheimerin, die an der Anna-von-Freyberg-Schule unterrichtet, ist es ein großes Anliegen, dass die Kinder in der Grundschule nicht nur körperlich, sondern auch seelisch wachsen, damit sie später ein glückliches und selbstbestimmtes Leben führen können. Doch diese Aufgabe zu erfüllen, das wird aktuell immer schwieriger – in der Bildungspolitik läuft vieles falsch, meint Hartmann-Striebel. Ihre Erfahrungen schildert sie in ihrem Buch „Hilfe, wer erzieht mein Kind?!! Bildungspolitik am Abgrund“– und im Gespräch mit SZ-Redakteur Christoph Dierking.
Frau Hartmann-Striebel, vor etwa vier Wochen ist Ihr Buch erschienen. Inwieweit hat die CoronaKrise Probleme im Bildungssystem verschärft?
Es ist höchste Zeit, über die Notlage an Grundschulen zu sprechen. Wenn nicht jetzt, wann sonst? Aktuell ist die Schüleranzahl in den Klassen zu hoch. Heißt: Wenn ich 28 Kinder un
ANZEIGEN terrichte, lässt sich die Pandemie natürlich schwieriger handhaben als mit der Hälfte der Kinder. Das betrifft zum Beispiel die Versorgung mit Unterrichtsmaterial und die Einhaltung der Abstandsregel. Aber auch unabhängig von der Pandemie sind kleinere Klassen wichtig: Denn nur so können Lehrkräfte auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder eingehen.
Gab es einen konkreten Anlass, weshalb Sie sich entschlossen haben, ein Buch zu schreiben? Eigentlich bin ich bereits pensioniert, aktuell helfe ich noch im Kollegium aus und übernehme Unterrichtsstunden. Mir war es einfach wichtig, allen Kindern und der Grundschule insgesamt ein Gesicht zu geben. Jedes Kind verdient es, dass man über es spricht. Das verstehe ich ein Stück weit als meine Mission. Nicht zuletzt ist das Schreiben für mich ein Weg, um Dinge zu verarbeiten, die mich beschäftigen. Außerdem habe ich an der Volkshochschule einen Schreibkurs gemacht, das hat mir große Freude bereitet. Ich habe mir Bücher zum Thema gekauft und bin mit Begeisterung dabei geblieben. Und nun, nach drei Jahren, ist mein Buch fertig.
In Ihrem Buch schildern Sie konkrete Beispiele aus Ihrem Berufsalltag: Situationen mit Kindern, die
Schwierigkeiten haben, dem Unterricht zu folgen. Situationen mit Kindern, die bei Problemen aggressiv reagieren.
Genau. Was ich beschreibe, habe ich selbst so erlebt, aber im Sachverhalt abgeändert und anonymisiert, um die Persönlichkeitsrechte zu wahren. Mein Ziel ist es, mit den konkreten Beispielen Dinge zu veranschaulichen und so zur Verbesserung der Lage beizutragen.
Dabei erzählen Sie aus der Perspektive einer Kunstfigur, die Beate Blume heißt und selbst Lehrerin ist. Warum?
Ich glaube, es ist wichtig, dass ich mich als Autorin zurücknehme. Die Geschichten der einzelnen Kinder haben einen beispielhaften Charakter und auch ich als Lehrerin soll nur beispielhaft dargestellt werden.
Durch das Verhalten der Eltern können Probleme entstehen. Etwa, wenn sie zu hohe Erwartungen haben. Was macht das mit einem Kind?
Es stößt schnell an seine Grenzen. Wenn die Eltern ehrgeiziger sind als ihre Kinder, dann ist das ein großes Problem. Die Kinder sind schnell überfordert. Sie erleiden oft unnötige Niederlagen, im schlimmsten Fall eine nach der anderen. Und solche Demütigungen
kann man den Kindern ersparen. Ein Kind braucht Erfolgserlebnisse, um sich gesund entwickeln zu können. Das Bildungssystem bietet so viele Möglichkeiten: Das Kind muss nicht unmittelbar nach der Grundschule den höchsten Bildungsweg einschlagen. Es muss nicht immer gleich der Hochschulabschluss sein, auch betriebliche Ausbildungen können zum Ziel führen. Nicht zuletzt besteht immer die Option, zwiten schen den Bildungswegen zu wechseln. Das versuche ich, den Eltern gegebenenfalls klarzumachen.
Was wünschen Sie sich von der Politik, um im Unterricht besser auf Probleme der Kinder eingehen zu können?
Mein Traum ist es, dass ich – sobald ein Problem aufkommt – nur eine Tür öffnen müsste. Und dann stehen alle Menschen da, die Unterstützung leiskönnen: die Erziehungsberatung, der Psychologe, der Schularzt, der Sozialarbeiter. Wir brauchen diese Stellen, um ein Kind aufzufangen. Aber das ist natürlich nur ein Traum. Realistisch und notwendig ist: an jeder größeren Schule zumindest einen Schulpsychologen zu beschäftigen, um schnelle Hilfe vor Ort zu leisten. Ein Lehrer kann das alleine nicht stemmen, wenn er parallel unterrichten und auch für alle anderen Kinder da sein muss.
Mit welchen konkreten Maßnahmen kann die Lage aus Ihrer Sicht verbessert werden?
Zum einen sollte die Politik den Lehrerberuf attraktiv gestalten, damit qualifizierte Nachwuchskräfte kommen. Und zum anderen ist es so, dass nach jeder Wahlperiode das Amt des Kultusministers neu besetzt wird. Jeder Politiker meint, er müsste etwas ändern, um noch ein Krönchen draufzusetzen. Unnötige Bildungsreformen verschwenden aber Ressourcen. Was Schulen brauchen, ist eine gewisse Ruhe, um ihre Arbeit zu machen. Neue Lehrpläne, Buchbestellungen, neue Prozesse, das alles verursacht immer viel Bürokratie und kostet Ressourcen. Diese sollte man lieber direkt in zusätzliches Personal investieren. Denn das ist es, worauf es wirklich ankommt.