Lindauer fürchten den Badexit
Die Bürger stimmen am Sonntag über den Bau einer Therme ab – Notizen über eine aus dem Ruder gelaufene Auseinandersetzung
LINDAU - Wenn der eine Bürger zum anderen Bürger sagt: „Ah, da ist ja wieder dieser Reichspropagandaminister!“, dann ist man entweder im falschen Film oder in Lindau am Bodensee. Dort scheint es offenbar nichts Außergewöhnliches mehr zu sein, einen Mitbürger für sein Andersdenken mit Joseph Goebbels zu vergleichen – wenn auch nur aus der vermeintlich sicheren Deckung des Internets heraus und nicht von Angesicht zu Angesicht. Jedenfalls hat die Diskussion um den Neubau einer Therme auf dem Areal des alten Eichwald Strandbades, über den Lindau am Sonntag in einem Bürgerbegehren abstimmt, die Stufe der Sachlichkeit hinter sich gelassen. Der Goebbels-Vergleich stammt übrigens ausgerechnet von einem Juristen, der es schon von Berufs wegen besser wissen müsste.
Aber er ist nicht der Einzige, der sich im Ton vergreift. Vielmehr überziehen sich nicht wenige Meinungskontrahenten immer wieder mit Verunglimpfungen – vornehmlich im sozialen Netzwerk Facebook – sobald die Gegenseite ihre persönliche Wahrheit verletzt sieht. Dabei spielen Fakten meist nicht die Hauptrolle. Die Diskussionen in Lindau haben sich über die vergangenen Monate abgenutzt, sodass sowohl Gegner als auch Befürworter sich nur in einem einig sind: dass zu dem Thema jetzt eigentlich alles gesagt ist. Aber was hat zu dieser grimmigen Stimmung und der Spaltung der Inselstadt in zwei Lager geführt, die nicht zum ersten Mal ein Großprojekt kurz vor Baubeginn wanken sieht?
Jahr für Jahr hohes Defizit
Der Versuch einer Rekonstruktion auf Basis unzähliger Zeitungsberichte, städtischer Verlautbarungen und Interneteinträge: Rückblick ins Jahr 2010 – damals wird es den Stadtwerken Lindau, die die Bäder in der Kommune betreiben, allmählich zu teuer, Jahr für Jahr ein hohes Defizit aus dem Unterhalt zu schlucken. Außerdem wird es immer offensichtlicher, dass Investitionen in Strandund Hallenbad von – damals schon – mehreren Millionen Euro unumgänglich sind, wenn in Lindau künftig überhaupt noch unter qualifizierter Aufsicht und in beheizten Becken geschwommen werden soll. Die Idee: Durch einen Neubau auf dem Gelände des wunderschönen Strandbads direkt am Bodenseeufer eine Lösung zu errichten, die sowohl Hallenbad – nicht zuletzt für den Schwimmunterricht – Strandbad mit Außenbecken, 50-Meter-Becken für Vereine und die Schwimmmeisterausbildung sowie Saunalandschaft beinhaltet und also respektive eine Therme sein soll.
Dass die Stadt eine solche Investition bei einem bereits reichlich vorhandenen Schuldenberg nicht allein stemmen kann, steht für Verwaltung und Mehrheit des Stadtrats von vornherein fest. Die Lösung: Ein Investor übernimmt Bau und Betrieb, die Stadt sorgt mit jährlichen Zuschüssen dafür, dass insbesondere das öffentliche Interesse an Schwimmunterricht und familienfreundlichen Preisen in Teilbereichen der künftigen Therme gewahrt bleibt. Die teureren Areale wie die Saunalandschaft subventionieren die günstigeren Eintrittspreise für Liegewiese und Außenbecken. Vorteil für die Stadt: Die Summe dessen, was jährlich an Verlusten für das Betreiben der maroden Bäder aufläuft (derzeit 1,5 Millionen Euro ohne Sanierung), wird kleiner (etwa 1,35 Millionen Euro) und sie selbst muss nichts in eine Sanierung stecken.
Der Investor indes genießt durch die Verteilung der Risiken zwischen sich und der Kommune größere unternehmerische Sicherheit. Außerdem: Das marode und hoch defizitären Hallenbad Limare kann abgerissen werden, das Grundstück wird für andere Nutzungen frei. Und nicht zuletzt gewinnt Lindau an einem der schönsten Plätze am Bodensee ein attraktives Bad, das all seine Vorzüge auf einem Areal konzentriert und in der Hoffnung der Stadt künftig ein touristisches Aushängeschild für Lindau werden kann. So zumindest die Sicht der Befürworter um Oberbürgermeister Gerhard Ecker.
Auf der Suche nach Investoren per europaweiter Ausschreibung kristallisiert sich der erfahrene Bäderbetreiber Andreas Schauer als Favorit heraus. Sein Entwurf ist es am Ende, der im Jahr 2015 erstmals der breiten Öffentlichkeit vorgestellt wird. Die Pläne liegen aus, es gibt Modifikationen, Schauer stellt sich in einer Bürgerversammlung den Fragen der Lindauer, während der Stadtrat mit 21:6 Stimmen für die Therme votiert. Die „Schwäbische Zeitung“begleitet jeden Schritt ausführlich, auch die Stadt Lindau hält die Bürger auf ihren Internetseiten auf dem Laufenden. Dieser Umstand ist aus städtischer Perspektive deshalb so wichtig, weil am Ende niemand behaupten soll, er habe von den Details des Projekts nichts gewusst. Zu diesem Zeitpunkt scheinen Idee und Umsetzung der geplanten Therme mehrheitlich auf Wohlwollen in der Bevölkerung zu stoßen. Im Herbst 2016 leitet der Stadtrat folgerichtig das Baugenehmigungsverfahren ein. Dass es in dieser reifen Projektphase noch Menschen geben könnte, die das Konzept und seine Verwirklichung ernsthaft ins Wanken bringen, glaubt zu diesem Zeitpunkt kaum jemand.
Unerwarteter Widerstand
Bis im November 2016 der Investor Andreas Schauer zu einem weiteren Infoabend lädt, bei dem 30 Bürger – darunter auch Anwohner – erscheinen. Dass dieser Abend die Keimzelle einer Bürgerinitiative (BI) gegen das Projekt sein würde, überrascht später nicht nur den Investor. Jedenfalls ist es dieser späte Zeitpunkt, an dem sich mit großem Druck ein Widerstand formiert, mit dem die Stadt nicht gerechnet hat, weil sie versichert, die Bürger von Anfang an mitgenommen zu haben. Jedenfalls begreifen im Angesicht der bevorstehenden Abrissarbeiten auch die Letzten, dass es tatsächlich ernst wird mit dem Neubau. Von da an gibt es kaum mehr ein Halten. Die Bürgerinitiative geht massiv in die Öffentlichkeit – an Infoständen, in Geschäften und von Haus zu Haus – um Unterschriften zu sammeln. Das Ziel: ein Bürgerentscheid, um die Therme zu Fall zu bringen. Wunsch der Bürgerinitiative: Alles soll – bis auf Modernisierung und Instandsetzung der maroden Becken – so bleiben, wie es schon immer war. So weit, so legitim. Kritik entsteht an der Art, wie die Bürgerinitiative für ihre Sache wirbt. Die Rede ist von Lügen, die über die geplante Therme verbreitet würden. So behauptet einer der Gegner zunächst, dass der Badebetrieb in der Therme „von morgens früh bis 3 Uhr nachts“laufen solle, was nachweislich die Unwahrheit ist. Im Gefolge dieser analogen wie digitalen Auseinandersetzungen verschärft sich das Klima in der Stadt.
Die ganze Wucht des Konflikts erlebt OB Gerhard Ecker dann, als die Thermengegner mit den 2699 gesammelten Unterschriften mehr oder weniger sein Vorzimmer im Rathaus ohne Termin stürmen. Einer der Gründe: Die Stadt hat kurz zuvor Bauzäune am alten Eichwaldbad aufstellen lassen, wodurch die BI glaubte, man wolle noch vor einem möglichen Bürgerentscheid vollendete Tatsachen schaffen.
Sorgen um Immobilienwerte
Aber wer ist die Bürgerinitiative und welche Interessen hat sie im Blick? Einerseits besteht sie aus direkten Anwohnern, die natürlich Angst haben, dass die Verkehrsbelastung auch aufgrund eines Parkplatzes in ihrer Nähe und rund um die künftige Therme dauerhaft zunimmt. Manche fürchten um den Wert ihrer Immobilien, während Investor Schauer davon ausgeht, dass die Therme den Stadtteil aufwerten wird und die Preise dadurch eher steigen. Eine weitere Gruppe sind die Naturschützer, denen die geplante und durch das Landratsamt genehmigte Bebauung zu massiv ist und die auch mit den Ausgleichsflächen, die westlich vom Bad entstehen, unglücklich sind. Auffällig ist, dass sich auch Thermengegner, die bisher nicht als glühende Umweltschützer aufgetreten sind, den Argumenten des Bundes Naturschutz leidenschaftlich anschließen.
Und zu guter Letzt rekrutiert sich die Gegnerschaft aus alten Bekannten, die schon seit Jahrzehnten in Sachen Widerstand gegen Stadtratsbeschlüsse kampfeserprobt sind. Für diesen Typus zu nennen ist da etwa Andreas von Hollen, der sich in Sachen Therme zunächst zurückhält, um in der Schlussphase umso mehr dagegen Stimmung zu machen. Obwohl er nach eigenem Bekunden seit Jahrzehnten keinen Fuß mehr ins Strandbad gesetzt hat, für dessen Erhalt er jetzt aber umso leidenschaftlicher streitet.
Spät gestarteter Protest
Nun erkennen so ziemlich alle in der Stadt das demokratische Instrument des Bürgerbegehrens an. Nur: Viele werfen der BI vor, dass sie mit ihrem Protest nicht nur bis fünf vor zwölf, sondern eher bis fünf nach zwölf gewartet hat. Am Ende dieser verbalen Schlachten schwirrt vielen Bürgern der Kopf von all den Argumenten beider Seiten – richtige, falsche oder vorgeschobene – und es macht sich vor allem der Wunsch breit, dass es bald vorbei sein möge. Und egal was am Sonntag entschieden wird: Die Lindauer werden baden gehen. Auch in Zukunft. Wo und wie auch immer. Wie es zum Bürgerentscheid zur Lindauer Therme gekommen ist, lesen Sie in einer multimedial aufbereiteten Reportage unter