Analog ist besser
Hartmann-Chef fordert von seiner Branche echte Innovationen statt trügerischer Digitalspielereien – Medizinartikelhersteller wächst weiter
RAVENSBURG - Die Forderung provoziert – und Andreas Joehle hat ihr einen einprägsamen Namen gegeben: „The End of Sexy“. Der Chef der Paul Hartmann AG, einem der führenden europäischen Anbieter von Medizin- und Pflegeprodukten mit Sitz in Heidenheim an der Brenz, ruft seinen Konzern und die gesamte Medizinund Pflegebranche auf, bei allen Hoffnungen, die digitale Techniken mit sich bringen, den Menschen nicht zu vergessen. „Die Digitalisierung ist kein Allheilmittel für das Gesundheitswesen. Statt vermeintlich bahnbrechende Neuerungen zu entwickeln, kommt es bei künftigen Innovationen vielmehr darauf an, messbare Mehrwerte zu schaffen“, heißt es in einem Konzeptpapier des Unternehmens, das der „Schwäbischen Zeitung“vorliegt.
In diesem Bereich sieht Joehle für die Paul Hartmann AG, die zu den ältesten deutschen Industriebetrieben gehört und auf eine 1818 gegründete Textilfabrik zurückgeht, auch die lukrativsten Wachstumschancen. „Digitale Innovationen zu schaffen, nur um dem Trend der Digitalisierung zu folgen ist keine Lösung“, sagte Joehle. „Neue Produkte müssen medizinischen Fachkräften mehr Zeit geben, die Qualität verbessern, einfach anwendbar sein und einen positiven wirtschaftlichen Effekt haben.“Die Gründe lägen auf der Hand, wie der Hartmann-Chef bei der Vorstellung der Bilanz 2016 erklärte. Der Kostendruck im Gesundheitswesen stiege massiv, es gebe mehr und mehr pflegebedürftige Menschen – aus diesem Grund müsse jede Innovation Kosten sparen und dem Pflegepersonal helfen mehr Zeit haben, sich um die Menschen zu kümmern. Ein Beispiel könnten Windeln sein, die sich nicht mit acht, sondern nur mit vier Handgriffen anziehen lassen.
Trotz des überall zu spürenden Kostendrucks hat das Unternehmen Umsatz und Gewinn im vergangenen Jahr aber steigern können, wie Joehle am Dienstag in Heidenheim mitteilte. Der Umsatz stieg um 2,3 Prozent auf 1,98 Milliarden Euro, der Gewinn um 6,3 Prozent 90,1 Millionen Euro. Der Gewinn vor Steuern betrug 139,1 Millionen Euro, womit sich die operative Marge im Jahr 2016 auf sieben Prozent erhöhte.
21,9 Prozent des Umsatzes erwirtschaftet die Paul Hartmann AG mit Wundauflagen, Pflastern und Fixierbinden, fast ein Drittel mit Produkten zur Inkontinenzversorgung und fast ein Viertel im Bereich Infektionsschutz. Bei den übrigen Aktivitäten setzt Hartmann vor allem Hoffnungen auf Anwendungen zur Selbstdiagnose: Vor allem medizinische Selbsttests der Marke Veroval gehören zu den neuen Produkten des Unternehmens – unter anderem zur Feststellung von Schwangerschaften oder zur Bestimmung des Cholesterinwertes, von Allergien oder auch des Alkoholgehalts im Blut.
Führender Anbieter in Spanien
Anfang März hatte Hartmann zudem die Übernahme von Lindor bekannt gegeben, einer vor allem in Spanien und Portugal etablierten Marke von Procter & Gamble für Produkte zur Linderung von Inkontinenz. „Hartmann positioniert sich damit auf der iberischen Halbinsel als einer der führenden Anbieter im Inkontinenzbereich“, sagte ein Sprecher der „Schwäbischen Zeitung“.
Für 2017 strebt der Konzern, der im Jahr darauf den 200. Jahrestag der Firmengründung in Heidenheim begeht, eine weitere moderate Steigerung von Umsatz und Betriebsergebnis an. Die Dividende für 2016 soll um 30 Cent auf 7 Euro pro Aktie steigen. Die weltweite Mitarbeiterzahl von derzeit 10 372 Beschäftigten werde nahezu konstant bleiben.