Britische EU-Scheidung mit viel Streitpotenzial
In Brüssel überwiegt die Erleichterung. Nach neun lähmenden Monaten wird am heutigen Mittwoch endlich der Scheidungsbrief überreicht, der die maximal zwei Jahre dauernden Austrittsverhandlungen Großbritanniens startet. Wie in jeder gescheiterten Ehe ist die Bitterkeit auf beiden Seiten groß.
EVP-Chef Manfred Weber (CSU) sagte am Dienstag, das Europaparlament halte die Entscheidung für „einen historischen Fehler“, werde aber die Rechte der verbleibenden 440 Millionen Europäer energisch verteidigen. Aus Kommissionskreisen hieß es, man werde den Briten eine Austrittsrechnung von 60 Milliarden Euro präsentieren.
Das Londoner „Centre for European Reform“rechnete vor, dass man von Großbritannien verlangen werde, seinen Anteil an den EU-Fördertöpfen bis 2023 zu zahlen. Ferner müssten die Briten künftige Kosten für die Ruhegehälter britischer EUBeamter abgelten und gegebenenfalls für Kreditgarantien einstehen, zu denen sie sich verpflichtet hatten.
Wie in jedem Scheidungsverfahren wird es über die Höhe der Abfindung Streit geben, der in einem Kompromiss münden dürfte. Schwieriger sind die Gesetzesfragen. Manfred Weber machte klar: Erst wird eine Austrittsvereinbarung unterzeichnet, dann beginnen die Gespräche über einen möglichen neuen Handelsoder Assoziierungsvertrag. In der Übergangszeit müsse London die EU-Gesetze anwenden und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs akzeptieren. Auch sei es weiterhin an die Handelsverträge der Union mit Dritten gebunden. Mit dieser Verhandlungsstrategie will die EU ein für sich möglichst günstiges Austrittsergebnis erzielen.
Grenzlösung notwendig
Am Herzen liegt ihr auch, dass die 4,4 Millionen Menschen Rechtssicherheit bekommen, die als EU-Ausländer in Großbritannien oder als Briten auf dem Kontinent leben. Für die Grenze zwischen dem britischen Nordirland und der Republik Irland muss eine Lösung gefunden werden. Keinesfalls dürften die Fortschritte des Friedensprozesses zunichte gemacht werden, heißt es aus Brüssel. Ferner soll London garantieren, dass es nicht mit Sozial-, Umwelt- oder Steuerdumping Arbeitsplätze vom Kontinent abwirbt.
In einer Rede deutete Kommissionsverhandlungsführer Michel Barnier an, welch finstere Zeiten auf London zukommen könnten, wenn sich die Seiten nicht einigen: Es könne zu Versorgungsproblemen kommen, da die Produktionskette unterbrochen werde. Mögliche Zollkontrollen würden Lieferungen verzögern. Der Flugverkehr werde nicht reibungslos laufen und wegen des Austritts aus dem Euratom-Vertrag könne nuklearer Brennstoff für die Kernkraftwerke knapp werden. Barniers Botschaft lautet: Einigen wir uns nicht friedlich, werdet ihr Briten mehr leiden als wir Europäer.