Lena lernt, mit der Pumpe zu leben
Immer mehr Kinder und Jugendliche erkranken an Diabetes Typ 1 – Reha-Maßnahmen in Fachklinik sind hilfreich
RAVENSBURG - Lenas Fahrt nach Scheidegg im Allgäu fühlt sich an wie ein Kurzurlaub. An schönen Tagen begleitet die majestätische Alpenkulisse den Besucher auf dem Weg zu der Fachklinik Prinzregent Luitpold in einem verborgenen Winkel außerhalb des bayerischen Kurorts. Das Haus war vor Jahrzehnten Ziel vieler Lungenkranker, die bei klarer Luft und ungetrübter Sonne in 900 Metern Höhe auf Besserung hofften. Heute ist dort eine moderne Fachklinik untergebracht, die sich unter anderem auch auf die Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen mit Diabetes spezialisiert hat. Derzeit sind 14 Jungen und Mädchen mit Diabetes Typ 1 in der Obhut von Ärzten, Therapeuten, Schwestern und Erziehern. Auch Lena gehört dazu.
Sie ist ein 16 Jahre alter, aufgeweckter Teeny, der gerne lacht und offen über seine Krankheit spricht. Mit sechs Jahren erkrankte das Mädchen an Typ 1 Diabetes, doch bis zur Diagnose war ein weiter Weg. Die Eltern brachten das Kind zu verschiedenen Ärzten. Ohne Erfolg. Lena verlor Gewicht, hatte viel Durst, war häufig müde, und dann machte sich dieser seltsame Aceton-Geruch bemerkbar, ein Zeichen dafür, dass ein Insulinmangel besteht. Als sich die Eltern nicht mehr zu helfen wussten, fuhren sie mit ihrer kleinen Tochter in die Klinik nach Rosenheim. Lena kam in lebensbedrohlichem Zustand sofort auf die Intensivstation. Dort war dann die Diagnose klar: Das Kind hat Diabetes.
Es folgte ein dreiwöchiger Klinikaufenthalt, in dem Lena und ihre Eltern geschult wurden. Denn Diabetes Typ 1 ist keine vorübergehende Erscheinung, er zählt zu den nicht heilbaren chronischen Erkrankungen. Die ganze Familie lernte Blutzuckerwerte messen, Insulin spritzen, Broteinheiten wiegen und vieles mehr. „Das ist eine Zäsur. Das veränfür dert das Leben über Nacht“, erklärt Uta Faller, Kinderärztin und Kinderdiabetologin am Elisabethenkrankenhaus in Ravensburg. Sie erlebt diese Situation häufig, denn jedes Jahr zählt sie rund 20 bis 30 Neuerkrankungen bei Kindern aus den Landkreisen Ravensburg, Biberach, Bodenseekreis und Sigmaringen. Dabei ist die Diagnose bei kleinen Kindern nicht einfach. „Das Krankheitsbild ist oft sehr verschleiert. Die Kinder sind kränklich, haben häufig Infekte und nehmen ab. Es bedarf großer Aufmerksamkeit, um den Diabetes festzustellen“, sagt die Ärztin, deren jüngster Patient mit Diabetes Typ 1 im vergangenen Jahr ein zehn Monate altes Baby war.
Während des Aufenthalts in dem von der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) zertifizierten Schulungsund Behandlungszentrum bekommen Patienten und Angehörige eine Komplexschulung innerhalb von zehn bis 14 Tagen, bei der neben der medizinischen Betreuung auch die Diabetes-, Ernährungs- und Sozialberatung eingeschlossen ist. Auch die Kinderund Jugendpsychiaterin gehört dazu. Alle Bemühungen zielen darauf ab, dass der Patient nach der Diagnose ein möglichst normales Leben führen kann.
Spontanität ausgeschlossen
Doch was Diabetes im Alltag tatsächlich bedeutet, ist Nichtbetroffenen kaum bewusst: „Ein Diabetiker kann nichts spontan machen“, sagt Thomas Hermann, Chefarzt der Fachklinik in Scheidegg. „Er muss immer vorher überlegen, was und wie viel er zum Beispiel essen will, um dann entsprechend Insulin zu spritzen.“Auch wenn er Sport treiben will, geht das nicht ohne Vorbereitung. Lena spielt begeistert Fußball. Vor dem Training misst sie ihren Blutzucker – ist er zu hoch, dann heißt es, erst einmal spritzen und abwarten. „Sport ist den Stoffwechsel gut, doch gerade bei Diabetes Typ 1 muss man sehr aufpassen“sagt der Kinder- und Jugendmediziner, Psychotherapeut und Diabetologe.
Als selbstbewusstes Kind wollte Lena schon sehr früh ihre Krankheit eigenständig managen: So entschied sie sich schließlich auch für das Tragen einer Insulinpumpe. Sie gewährt eine Grundversorgung des Körpers mit Insulin. Uta Faller: „Man ist flexibler, weil man auch während oder nach dem Essen Insulin zugeben kann, wenn die Mahlzeit größer ausfällt als geplant. Außerdem erspart man sich rund 1000 Nadelstiche im Jahr.“Vor dem Essen drückt man einen Knopf, sodass zusätzlich Insulin zugegeben wird. Es gelangt über einen kleinen Schlauch und eine Kanüle, die im Unterhautfettgewebe platziert ist, in den Körper. „Die Pumpe hat mein Leben vereinfacht“, sagt Lena, die sich aber trotzdem noch täglich bis zu achtmal in den Finger piksen muss, um einen Tropfen Blut für die nach wie vor notwendige Zuckermessung zu haben. Ein Reha-Aufenthalt war bei Lena angezeigt, weil sie mit der Pumpe nicht so gut klarkam wie früher mit der Spritze. So vergaß sie schon mal den Knopf vor dem Essen zu drücken, was ihr Körper nicht verzieh. Der Insulinbedarf stieg mächtig an, worauf sie wiederum das Gefühl hatte, stark aufgebläht zu sein.
Disziplin ist wichtig
Teenager mit Diabetes haben oft Angst, dick zu werden. „Insulin richtig dosiert, macht nicht dick“, sagt dagegen Kinderärztin Faller. Insulin braucht jeder Mensch, denn es ist der Schlüssel, damit der Blutzucker von den Zellen aufgenommen und in Energie umgewandelt werden kann. Eine Gewichtszunahme erfolgt zum Beispiel bei zu hohen Insulinmengen oder bei zu vielen Kalorien. Deshalb ist das Ziel jeder Therapie, dass der Patient lernt, konsequent zu spritzen und sich an die Regeln zu halten. Das erfordert viel Disziplin, was vor allem dem Lebensgefühl Pubertierender ziemlich zuwiderläuft. Manche wollen in dieser Zeit ihre Krankheit nicht mehr akzeptieren und vernachlässigen ihre Therapie. „Diese Zeit muss man gemeinsam aushalten“, sagt Faller, die bei Bedarf noch einmal Nachschulungen anbietet.
Hilfreich sind in diesen Situationen dann eben auch Reha-Aufenthalte. „Einige unserer Kinder waren schon in Reha, für andere wurden bereits die Anträge gestellt“, erklärt Faller. Mal geht es darum, dass jemand über mehrere Wochen geschult werden muss. Mal braucht auch die Familie eine Entlastung. Für viele Jugendliche ist es auch einfach der Kontakt zu anderen jungen Diabetikern, der ihnen über schwierige Zeiten hinweghilft. „Der Prozentsatz an depressiven Erkrankungen ist bei Diabetikern deutlich höher“, sagt Thomas Hermann. Deshalb gehört die psychologische Betreuung zum Standardprogramm der Fachklinik.
Für Lena hat sich der Aufenthalt allemal gelohnt. Ihr Insulinbedarf ist zurückgegangen. Sie ist gut eingestellt, und zu Hause wird sie nach dem vierwöchigen Aufenthalt in der Schule wieder schnell Anschluss finden. Denn in Scheidegg ging sie auch in die Klinikschule. „Wenige Schüler – gute Lehrer. Das war toll“, sagt sie. Reha hat für sie jedenfalls einen guten Klang. Vielleicht führt sie ihr Weg wieder einmal nach Scheidegg. Sie wäre nicht die Einzige. Hermann: „Wir haben viele Kinder, die regelmäßig zu uns kommen.“Und der Kontakt der jungen Leute untereinander ist auch gesichert – WhatsApp sei Dank.