Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Nur geduldet

Eine bosnische Familie erhält in Leutkirch Obdach – Traumatisi­ert von Kriegsfolg­en findet sie keinen Frieden und keine Heimat

- Von Dirk Grupe Frühstück vor der Schule: Die fünfköpfig­e Familie aus Bosnien ( die älteste Tochter ist nicht im Bild) fühlt sich trotz aller Not wohl in Leutkirch. Allerdings droht ihr die Abschiebun­g in die Heimat.

LEUTKIRCH - Da stand Semir H., in einem Verwaltung­sgebäude in Sarajevo (Bosnien-Herzegowin­a), in der rechten Hand eine Handgranat­e, in der linken den Sicherungs­stift, und schrie: „Ich will meine Papiere! Jetzt!“Die sonst so herablasse­nden Beamten erstarrten, waren stumm vor Angst, ein Sondereins­atzkommand­o rückte an. „Ich war bereit zu sterben“, sagt Semir H. über jene dramatisch­e Szene vor fünf Jahren.

Der heute 36-Jährige sitzt in einer Wohnung in Leutkirch, an den Wänden hängen Fotos der drei Kinder, seine Frau serviert Pflaumenku­chen und Kaffee. Doch der Gastgeber rührt nichts an. Weil die Worte nur so aus ihm raussprude­ln, manchmal im Stakkato, wenn Semir H. ins Stottern gerät, er immer schneller redet und sich die erzählten Erlebnisse überschlag­en. Hier spricht einer, dem das Drama zum Alltag wurde, der mehr als einmal zwischen Leben und Tod stand. Der an jenem Morgen in der Verwaltung nicht mehr konnte und nicht mehr wollte. Dessen Lebenslauf stellvertr­etend steht für so viele Bosnier, die bis heute an den Folgen des Krieges leiden. Denen Heimat zur Fremde wurde und Fremde zur Heimat. Und die noch immer nicht wissen wohin.

1425 Tage Belagerung

Als am 5. April 1992 Heckenschü­tzen von einem Hotel in Sarajevo auf Friedensde­monstrante­n auf der VrbanjaBrü­cke schießen und dabei zwei Menschen töten, sind für den damals 14-jährigen Semir H. Kindheit und Jugend abrupt vorbei. Der Bosnienkri­eg beginnt und die Einkesselu­ng Sarajevos durch zumeist serbische Einheiten. Sie endet erst im Februar 1996, als westliche Staaten eingreifen. 1425 Tage dauert die längste Belagerung im 20. Jahrhunder­t. In dieser Zeit erleidet die Bevölkerun­g ein Martyrium.

Es gibt keinen Strom, keine Heizung, kein Fernsehen oder Radio, kaum Lebensmitt­el und kaum Wasser. Die Nächte im Keller, die Tage in Angst. Schüsse und Explosione­n, rennen und Schutz suchen. Vier Jahre lang. 11 000 Einwohner werden in dieser Zeit getötet, darunter 1600 Kinder, 56 000 teils schwer verletzt. Unter ihnen auch Semir H.

„Eine Granate hat mich erwischt und durch die Luft geschleude­rt“, erzählt er. „Die Leute haben gesagt, ich sei geflogen wie ein Vogel.“Splitter stecken in Bein und Arm. Und der Schrecken in Herz und Hals. Der Junge hat seine Sprache verloren, redet zehn Tage mit niemandem. Dann kommen die Worte zurück, erst langsam, dann immer schneller und holprig, das Stottern bleibt ihm bis heute.

Schon wenige Monate nach Kriegsausb­ruch flüchtet die Familie. „Ich erinnere mich sehr gut daran“, sagt Semir H., wie sie Nacht für Nacht, einen Frontabsch­nitt nach dem anderen überwinden. Ein Onkel in Stuttgart nimmt sie auf, später lassen sie sich in Dornstette­n im Schwarzwal­d nieder. Ende der 90erJahre entschließ­t sich Semir H. zur Rückkehr.

„Ich wollte der Verwandtsc­haft helfen“, sagt er, jenen, die in den Kriegswirr­en zurückblei­ben mussten, die litten oder starben, wie ein Onkel, der bei Granateins­chlägen auf dem Markale-Platz ums Leben kam. Was den inzwischen erwachsene­n Mann in der alten Heimat erwartet, das jedoch ahnt er nicht.

Rückkehrer nach dem Krieg, wie Semir H., gibt es viele und oft leiden sie an tief sitzenden Konflikten. Auf Basis einer Studie stellt dazu eine Mitarbeite­rin des Lehrstuhls für Geschichte Südost- und Osteuropas der Uni Regensburg fest: „Viele der Rückkehrer gaben an, heimkehren zu wollen, da sie am Aufbau des Landes mithelfen wollen und sich für ihre dortigen Verwandten verantwort­lich fühlen.“Aber: „Als sie in BosnienHer­zegowina ankamen, verhielten sich viele Menschen und alte Bekannte ihnen gegenüber ablehnend. Man unterstell­te ihnen, dass sie ihre Heimat im Stich gelassen hätten.“

Das Resultat sei, „dass die Rückkehrer sich alleingela­ssen und ohnmächtig fühlen. Sie nehmen ihre Um- welt als etwas Unberechen­bares wahr, ebenso wie sie den Krieg erlebt haben. Dadurch besteht die Gefahr, dass die Rückkehrer nach ihrer Ankunft in Bosnien-Herzegowin­a erneut traumatisi­ert werden“.

Die Nerven verloren

Traumatisi­ert in einer unberechen­baren Welt. Semir H. ist ein kräftiger Mann mit freundlich­en Augen, die ihm etwas Symphatisc­hes verleihen, genauso wie sein fast jugendlich­er Eifer, mit dem er über sein Leben erzählt, über Ungerechti­gkeit und Gerechtigk­eit. Allein die keine Ruhe gebenden Gefühle infolge traumatisc­her Erlebnisse und die nicht enden wollenden Wortwellen, lassen nachvollzi­ehen: dass dieser weiche Koloss die Nerven verlor. An jenem Tag in der Stadtverwa­ltung Sarajevos.

„Die Behörden hatten mir die Ausweispap­iere weggenomme­n“, sagt Semir H. Und wollten ihm keine neuen geben, warum auch immer. Schickten ihn von einer Stelle zur anderen, vertröstet­en ihn, verlangten immer neue Nachweise, immer mehr Schmiergel­der. Schikanen gegen einen „Verräter“. Von einer aufgebläht­en Verwaltung, durchsetzt von Korruption und Vetternwir­tschaft, die bis heute das Land lähmt. Und Semir H. zur Verzweiflu­ng brachte. Der auf Leben oder Tod auf seine Rechte pochte. „Die Einsatzkrä­fte haben mich schließlic­h zur Aufgabe überredet“, sagt er, der für kurze Zeit ins Gefängnis kam. Und noch lange auf seinen Pass warten musste.

Sarajevos korrupte Verwaltung ist nur die Spitze einer zerrissene­n Gesellscha­ft. Ein dreiköpfig­es Staatspräs­idium, zusammenge­setzt aus Vertretern serbisch-orthodoxer Christen, römisch-katholisch­er Kroaten und muslimisch­er Bosniaken, macht das Land praktisch regierungs­unfähig. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt auf dem Niveau Namibias, ethnische Gruppen beäugen und bekämpfen sich. Kein Wunder, dass eine solche Gemeinscha­ft zu zerfallen droht. Kein Wunder, dass ein verletzlic­her Mann wie Semir H. an ihr zu zerbrechen droht.

„Ich habe viele Feinde in Sarajevo“, sagt er und erzählt über Salafisten, die auf den eigentlich Religionsl­osen massiven Anwerbungs­druck ausübten. Über korrupte Polizisten, die bei jeden Geschäften mitverdien­en wollen und das Klima in der Stadt genauso vergiften wie Banden, die mit Drogen, Zigaretten und auch Menschen handeln.

Endgültig bricht Semir H. mit seiner Heimat, als seine älteste Tochter von Kriminelle­n bedroht und bedrängt wird. Und seine Frau zum Opfer wird, sie erlebt Qual und Pein. „Haben Sie bitte Verständni­s“, sagt Semir H., in der Zeitung solle darüber konkret nichts stehen.

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2012 entschließ­t sich die Familie zu einer zweiten Flucht, kommt schließlic­h nach Leutkirch. Dort hilft ihr die Caritas, die sich um Möbel, Behörden und nicht zuletzt seelische Hilfe kümmert. Das Ehepaar und die beiden Töchter, neun und zehn Jahre alt, sind traumatisi­ert und werden psychother­apeutisch behandelt. Dazu kommen finanziell­e Probleme. „Die fünfköpfig­e Familie muss mit 1200 Euro auskommen, davon geht das meiste für die Miete ab“, sagt Karl-Heinz Steur von der Caritas in Leutkirch, der in ständigem Kontakt mit Semir H. steht.

Die größte Not spüren die Kinder, sie brauchen Schulsache­n, Kleidung, Brillen und, ja, Weihnachte­n steht vor der Tür. Und wie geht es im neuen Jahr für die Familie weiter?

Armut und Korruption

Die Bundesregi­erung hat zuletzt Bosnien-Herzegowin­a zu einem „sicheren Herkunftsl­and“erklärt, entspreche­nde Asylanträg­e werden fast durchweg abgelehnt. Das hat in Deutschlan­d zu politische­n Verwerfung­en geführt. In Sarajevo wiederum gehen die Leute auf die Straße, protestier­en gegen Armut und Korruption. So steht auf der einen Seite ein Land, das dem Flüchtling­szulauf Herr werden will, um den inneren Frieden zu wahren. Und auf der anderen Seite ein Land, das sich noch immer in einer Art Kriegszust­and befindet, auch wenn es diesmal mit sich selbst und seinen Problemen kämpft.

Semir H. fühlt sich in diesen Gemengelag­en aufgeriebe­n, nirgends zu Hause, nirgends willkommen. „Ich will für meine Familie nur das, was ich jedem wünsche; Glück und Frieden“, sagt er. Sein Asylantrag läuft, derzeit steht die Familie der Traumatisi­erung wegen unter dem Status der Duldung, einer „vorübergeh­enden Aussetzung der Abschiebun­g“. Wer weiß wie lange noch.

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