Schwäbische Zeitung (Biberach)
Freie Bahn
„Einigkeit und Recht und Freiheit…“, das wird morgen am Tag der Deutschen Einheit an vielen Orten angestimmt. Dass diese drei großen Worte immer wieder besungen werden müssen, hat seinen guten Grund. Selbstverständlich sind sie nie. Sie müssen immer wieder neu erschaffen werden.
Das war schon früher so. Einen deutschen Nationalstaat gibt es zwar schon seit 1871. Aber der bestand aus einem bunten Fleckerlteppich von Ländern mit ihren ganz eigenen Regeln.
Wer etwa vor über 100 Jahren eine Zugfahrt von Biberach nach Hamburg unternahm, wurde unterwegs von Schaffnern in ganz unterschiedlichen Uniformen in unterschiedlichen Farben kontrolliert. Jedes Land hatte seine eigene Uniform. Denn Eisenbahn war Ländersache. Und so bekamen auch die Lokführer je nach Land unterschiedliche Gehälter. Und im größten deutschen Bahnhof, in Leipzig, gab es sogar verschiedene
Bahnsteige für Züge aus Sachsen und aus Preußen. Es war dem unermüdlichen Drängen des damaligen Reichsministers Matthias Erzberger zu verdanken, dass am 1. April 1920 die Länderbahnen
in eine Reichsbahn übergeleitet wurden. Das hat damals das Reich Milliarden Mark gekostet. Aber Erzberger hatte eine Vision: Die Eisenbahn kann Menschen und Räume verbinden und die bis dahin geltenden Binnengrenzen in Deutschland überwinden. In der Tat hat die damalige Bahnreform dazu beigetragen, das drohende Auseinanderbrechen des Reiches zu verhindern. Seither gibt es in ganz Deutschland einen einheitlichen Fahrplan, ein einheitliches Tarifsystem und vor allem: gute, durchgängige Verbindungen.
Die früheren Binnengrenzen der Länder sind heute längst Geschichte. Grenzen und Abschottungen dagegen gehören nach wie vor zu unserem Alltag: Mitarbeiter grenzen ihre Kollegen aus; Milieus bewegen sich nur noch in ihrer „Blase“; Bewegungen, Gruppen, Clans fühlen sich nicht mehr ans Recht gebunden; religiöse Strömungen sprechen anderen den Glauben ab ...
„Einigkeit und Recht und Freiheit“werden regelmäßig verletzt.
Aus der Vision des Matthias Erzberger in seiner Bahnreform kann man etwas lernen: Wenn man Menschen und Orte miteinander verbindet, kann man Grenzen überwinden und das Auseinanderbrechen verhindern.
Grenzüberschreitender „Bahnverkehr“ist gefordert. Von uns allen. Und es gibt viele Möglichkeiten, um Menschen miteinander zu verbinden: mit Musik, gemeinsamer Sprache, wenn alle einen Job haben, sich eine Wohnung leisten können, Zugang zu Bildung und Kultur haben, Werte teilen …
Und wir Christen? Auch uns trägt eine radikale Vision. Der Apostel Paulus schrieb mal: „Es spielt keine Rolle mehr, ob ihr Juden seid oder Griechen, Sklaven oder freie Menschen, Männer oder Frauen. Denn durch eure Verbindung mit Christus Jesus seid ihr alle wie ein Mensch geworden.“
Heißt: In Christus sind wir alle miteinander verbunden. Christus hilft uns, Grenzen, die uns trennen, zu überschreiten.