Schwäbische Zeitung (Biberach)
Deutschland setzt seit einigen Jahren auch auf Antisemitismusbeauftragte, um das Problem in den Griff zu bekommen.
Taucht dieser Alltagsantisemitismus in Statistiken auf?
Nein. Diese Fälle werden nirgends registriert. Wenn jemand als zionistischer Verräter beleidigt wird, geht er in den seltensten Fällen zur Polizei. Aber er erlebt eine massive Verunsicherung. Ein Negativbeispiel, welche Folgen Antisemitismus haben kann, sehen wir direkt vor unserer Nase in Frankreich. Viele Juden haben das Land bereits verlassen.
Welche Rolle spielen soziale Medien mit Blick auf dieses Phänomen?
Sie heizen den Antisemitismus weiter an, das zeigte sich auch während der Corona-Krise. Die meisten Verschwörungstheoretiker haben noch nie einen Juden getroffen, verbreiten aber Falschnachrichten, in denen sie die Juden als Ursache allen Übels verunglimpfen. Das ist jedoch nichts Neues. Diese unglaublichen Verschwörungsmythen existieren seit Jahrzehnten und Jahrhunderten.
In der offiziellen Polizeistatistik werden 90 Prozent der antisemitischen Vorfälle Rechtsextremen zugeschrieben.
Diese Statistik ist nicht richtig. Juden fürchten vor allem den muslimischen Antisemitismus. Jedes Mal, wenn es in Israel Konflikte mit Palästinensern gibt, gehen die Zahlen nach oben. Das hat mit Rechtsextremismus nichts zu tun, das hat mit dem Nahostkonflikt zu tun. Diese Daten müssten besser erfasst werden, damit wir die Dinge so sehen, wie sie sind, auch wenn das politisch unbequem sein mag. Antisemitische Taten müssten auch konsequenter verfolgt werden, damit der Letzte hierzulande versteht, dass dies in Deutschland nicht geduldet wird. Sonntagsreden und Mahnwachen gibt es bereits genug.
Wie erklären Sie die von Ihnen kritisierte Verzerrung in der Statistik? Wenn ein afghanischer Mensch auf einem Tisch steht und „Heil Hitler“ruft, dann wird dieser Fall in der Statistik als rechtsextremistisch erfasst, weil er rechtsextreme Narrative bedient. Das sagt die Polizei selbst. Ich will den Rechtsextremismus in Deutschland nicht verharmlosen, aber die Antisemitismus-Statistik stimmt so nicht.
Woher kommt es eigentlich, dass Antisemitismus auch in sogenannten normalen Gesellschaftsschichten verbreitet ist?
Das resultiert aus einem schwarzweißen Israel-Bild. Wenn es dort Konflikte mit Todesopfern gibt, werden die Juden dafür verantwortlich gemacht. Viele Menschen hier schauen mit einer europäischen Brille auf den Nahen Osten und werfen Israel Menschenrechtsverletzungen vor, wenn es sich gegen Terrorismus schützt, anstatt die Nachbarstaaten oder Terrororganisationen zu kritisieren, die Anschläge auf Israel unterstützen.
In welcher Form kann ein Deutscher Israel kritisieren, ohne antisemitisch zu sein?
Das ist eine schwierige Frage, die aber eine Antwort verdient. Man kann die israelische Politik im Einzelnen kritisieren, beispielsweise wenn es um die Siedlungspolitik geht. Aber wer Israel das Recht abspricht, sich zu verteidigen, äußert sich antisemitisch. Nehmen Sie das Beispiel Gazastreifen: Viele fordern eine andere Gazapolitik, ignorieren aber, dass Israel bereit wäre, weitere Zugeständnisse zu machen – unter der Bedingung, dass sich die Terrororganisation Hamas entwaffnet. Wer ausblendet, dass die Hamas die Vernichtung Israels zum Ziel hat, bedient antisemitische Narrative.
Sie stammen selbst aus einer palästinensischen Familie, in der Judenhass normal war. Wann haben Sie gemerkt, dass Ihre Feindbilder falsch sind?
Das war während meines Studiums in Tel Aviv. Das war meine Rettung. Ich bin auf Menschen gestoßen, die meine Feinde sein sollten, die mich aber aufgenommen haben. Meine Vorurteile hielten schlicht der Realität nicht stand. Als ich nach Deutschland kam, habe ich angefangen, mich mit jüdischer Geschichte und dem Holocaust zu beschäftigen. Erst da habe ich erkannt, warum es für die Juden so wichtig war, selbstbestimmt und in Sicherheit in Israel leben zu können. Dieser Zusammenhang wird in meiner eigenen Familie bis heute ignoriert.
Das ist Symbolpolitik. Die meisten von ihnen arbeiten ehrenamtlich, ohne finanzielle Mittel für Projekte. Aber es wäre ohnehin viel wichtiger, das Thema Antisemitismus in jedem deutschen Lehrplan zu verankern. Das muss Teil der Ausbildung von Lehrern und Sozialarbeitern werden. Wir müssten auch mehr in den sozialen Medien präsent sein, um dort gegenzuhalten, wenn Verschwörungstheorien verbreitet werden. Diese Orte dürfen nicht den Radikalen überlassen werden. Für Kinder ist es im Übrigen fatal, dass die sozialen Medien immer mehr den Alltag dominieren. Denn Empathie zu empfinden, lernen sie nur über den Austausch mit Menschen und nicht, wenn sie stundenlang auf ein Smartphone starren.
Sie selbst machen Projektarbeit gegen Antisemitismus. Wie muss man sich das vorstellen?
Wir versuchen für Jugendliche – beispielsweise muslimische Flüchtlinge und Juden – Orte der Begegnung zu schaffen, wo sie miteinander in Kontakt kommen und von sich erzählen können. Wir müssen sie emotional erreichen, dann fangen sie auch an, ihre Positionen zu hinterfragen. Das hat leider unter der Corona-Pandemie massiv gelitten.
Ahmad Mansour diskutiert beim Bodensee Business Forum mit anderen Experten über die Frage „Antisemitismus: Wie ist der Judenhass in den Griff zu bekommen?“.
Unter dem Leitmotto „Vernetzen statt verzweifeln: Ideen für eine Welt im Wandel“treffen bei der vierten Auflage der Tagung am 20. Oktober im Graf-Zeppelin-Haus in Friedrichshafen am Bodensee mehr als 40 Top-Entscheider zusammen. Informationen und Eintrittskarten für die Veranstaltung gibt es unter: www.schwäbische.de/bbf