Schwäbische Zeitung (Biberach)
Filme sehen muss man lernen
Kino steht nicht auf dem Lehrplan – Dabei gehört Filmwissen auch zur Bildung
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ilm ist viel mehr als ein Medium der Vermittlung von Inhalten. Er ist auch ein Kunstwerk, ein Kulturgut. Filmbildung heißt: die kulturelle Bedeutung des Films und seinen künstlerischen Wert zu verstehen.“Dieser Satz stammt von der amtierenden Kulturstaatsministerin. Niemand wird Monika Grütters widersprechen wollen.
Zugleich gehört zu all dem, was „Filmbildung“heißen kann, noch viel mehr: Die Ausbildung zukünftiger Filmemacher ebenso wie die Horizonterweiterung für das allgemeine erwachsene Publikum. Denn so, wie man mehr von einem guten Rotwein hat, wenn man ihn mit anderen Rotweinen vergleichen kann, so ist es auch mit Filmen: Erst wer sehr vieles kennt, kann das Einzelne schätzen; und wer immer nur das Gleiche sieht, der ahnt gar nicht, was ihm alles entgeht. Am allerwichtigsten ist aber das, was man gern mit „Medienkunde“umschreibt, und was schon bei Grundschülern anfängt: Dass man sie in die Lage versetzt, souverän mit der vielfältigen Unübersichtlichkeit der Medienlandschaft umzugehen. Auch Film ist etwas, was jeder erst lernen muss. So wie man auch Lesen und Schreiben lernen muss. Es gibt immer noch zu viele Film-Analphabeten.
Die beste Filmschule ist im Prinzip ein gutes Kino. Denn Filme lernt man in ihrer Tiefe und Vielfalt am besten beim Sehen kennen. So wie man Fußball auch am besten auf dem Bolzplatz lernt. Nun gibt es allerdings längst nicht überall ein Kino. Und wenn es eines gibt, dann ist es nicht in jedem Fall so gut kuratiert, dass dort auch Kinderfilme für verschiedene Generationen gezeigt werden, dass man sich früh daran gewöhnen kann, Filme im Original mit Untertiteln anzusehen, und dass man in Form von Retrospektiven etwas über die Filmgeschichte lernt.
Für die heute um die 50-Jährigen war das Fernsehen die beste Filmschule. Regelmäßige Werkschauen eines Filmemachers – etwa zu François Truffaut, Peter Greenaway oder Luchino Visconti – und Filmsendungen wie „Kennen Sie Kino?“oder der legendäre Filmtipp des WDR.
Heute kann und muss man sich dazu im Internet weiterhelfen, mit einer Art Selbststudium. Das ist allerdings viel leichter als früher: allein auf YouTube findet man die komplette Filmgeschichte mindestens in Highlights und entscheidenden Szenen, auch Kurse zu allen denkbaren Themen und Fragen ebenso wie unzählige Vorträge und Diskussionen mit berühmten Filmemachern oder historische Dokumente.
Filmbildung an den Schulen ist in Deutschland leider viel weniger institutionalisiert als in anderen Ländern, wo der regelmäßige Kinobesuch ein Teil des Curriculums ist. Bei uns hängt alles von Einzelnen ab: Kinobegeisterte Lehrer versuchen mit viel Liebe zur Sache, Schülern Filmkunst mit ähnlichem Ernst zu vermitteln wie Malerei und Literatur. Manche machen auch praktische Übungen, bei denen Schüler eigene Filme herstellen können – der allerbeste Weg, um handwerkliche Finessen kennenzulernen. Aber das sind Ausnahmen. Die Regel ist ein Gelegenheitsfilm, der im Geschichtsunterricht gezeigt wird, oder eine Literaturverfilmung. Aber der über 60 Jahre alte „Faust“mit Gründgens/ Quadflieg gewöhnt einem Kino eher ab.
Filmwissenschaft an den Universitäten war lange Zeit ein Orchideenfach. Inzwischen gibt es einige Lehrstühle. Zudem hat sich wieder einmal das amerikanische Beispiel durchgesetzt: Film gilt auch in anderen kulturwissenschaftlichen Fächern mehr und mehr als eine gleichberechtigte Quelle neben den Texten aus der Bibliothek und Gemälden oder Fotografien.
So vielfältig wie das Kino ist, ist auch die Ausbildung zukünftiger Filmemacher. Neben einzelnen Fachhochschulen gibt es in Deutschland zurzeit acht richtige Filmhochschulen: Sie bieten sehr verschiedene Ausbildungsgänge an. Keine ist grundsätzlich besser oder schlechter als die andere. Aber Kenner können durchaus Handschriften und Stile unterscheiden und kennen bestimmte Stärken.
So etwa gilt die baden-württembergische Filmakademie Ludwigsburg als besonders gut in der Ausbildung zukünftiger Produzenten. Vielleicht liegt das an einer Eigenheit: Die Studenten müssen bereits vom allerersten Kurzfilm-Versuch an mit
Zukunft des
Kinos
Filmbildung einem eigenen Etat haushalten und diesen auch rechtsverbindlich verantworten. Es gibt zwar eine künstlerische, aber keine finanzielle Spielwiese.
Ludwigsburg hat auch einen sehr guten Ruf für alles, was mit Animation und Trickfilm zu tun hat. Vielleicht liegt dieser Ruf aber auch nur darin begründet, dass es sich bei einem der berühmtesten Absolventen um das „Spielbergle“von Hollywood, um den Blockbuster-Experten Roland Emmerich handelt.
Zu den Anekdoten, um die kein Kinofan herumkommt, gehören die prominenten Absagen: Sowohl Rainer Werner Fassbinder als auch Wim Wenders und Christoph Schlingensief bekamen jeweils an einer oder gar mehreren Filmhochschulen Absagen. Umgekehrt gibt es auch legendäre Jahrgänge. Der berühmteste von allen ist wohl der allererste Jahrgang der allerersten in Westdeutschland gegründeten Filmhochschule: der 1966er-Aufnahmejahrgang der Berliner dffb. Hier wurde Fassbinder abgelehnt. Zu den illustren Studenten gehörten so grundsätzlich verschiedene Filmemacher wie Wolfgang Petersen, Helge Sanders, Harun Farocki, Hartmut Bitomsky – und der spätere RAF-Terrorist Holger Meins.
Nicht nur Filmregie lernt man an Filmhochschulen. Neben dem, wozu auch Talent oder gar „Genie“gehören, wie Dramaturgie, Schauspielinszenierung oder das Schreiben eines Drehbuchs, gibt es Dinge, die man ganz praktisch technisch lernen kann – wie ein Handwerk: Wer mit einer Filmkamera zu tun hat, muss die verschiedenen Objektive und ihre Wirkung kennen, wissen, was ein Riss-Schwenk ist. Wer sich mit Filmmontage beschäftigt, sollte schon mal etwas vom Kuleschow-Effekt gehört haben, also der großen Entdeckung der frühen sowjetischen Avantgarde, dass die Bewertung eines bestimmten Bildes immer von dem zweiten Bild wesentlich mitbeeinflusst wird, mit dem man es zusammenschneidet. Und Filmproduzenten brauchen mindestens Grundkenntnisse in Betriebswirtschaft.
Alles das wäre aber komplett wertlos ohne diejenigen, für die es gemacht wird: das Publikum. Und hierüber gibt es auch in der Gegenwart die meisten Meinungsverschiedenheiten. Ein wichtiges Thema ist der Zugang zu Archiven. Die öffentlichen in Koblenz und bei der Wiesbadener Murnau-Stiftung kosten zum Teil hohe Gebühren – was sie praktisch schwer zugänglich macht. Das liegt auch daran, dass das Geld für Personal fehlt, um höhere Besucherzahlen zu bedienen.
Noch problematischer ist die Lage bei den deutschen Fernsehsendern: Die haben für ihre mit öffentlichen Gebühren längst von allen Bürgern bezahlten Werke riesige Archive, die auch enorme Erhaltungskosten verschlingen – trotzdem sind diese bis heute für die Öffentlichkeit komplett verschlossen. Nur Wissenschaftler und auch die oft erst nach langen Verhandlungen und dem Unterzeichnen vielseitiger Verschwiegenheitserklärungen erhalten selektiven Zugang – ein weiterer deutscher Sonderweg in Europa.
Noch wichtiger ist die Frage, warum es eigentlich für alles Mögliche Museen gibt, aber kaum Filmmuseen. Manche Bundesländer haben gar keines, andere nur ein oft sehr spezialisiertes, wie etwa das Stuttgarter Haus des Dokumentarfilms.
Der Filmwissenschaftler Lars Henrik Gass ist einer derjenigen, die seit Langem in Büchern und Leitartikeln gut begründen, warum es in jeder größeren Stadt ein Filmmuseum geben müsste. Die Veränderung im Freizeitverhalten verwandle Kinos. Man sieht Filme immer noch, aber nicht mehr nur im Kino. Darum müsse die Tradition gepflegt werden und es stelle sich die Frage: „Möchte man ebenso wie für andere kulturelle Hervorbringungen, wie Theater oder Oper, bestimmte Orte vorhalten, die auch bestimmte Voraussetzungen haben müssen: technologisch, baulich und so weiter. Wenn man diesen Prozess allein dem Markt überlässt, dürfte das Kino ziemlich bald der Vergangenheit angehören.“Darum fordert Gass mit anderen eine Initiative, die das „historische Versäumnis“fehlender öffentlicher Filmmuseen ausgleicht und fordert, ein Filmmuseum in 100 Städten einzurichten.
Ein verführerisches Projekt, das zugleich zeigt: Mit einem offenen, optimistischen Zugang und vergleichsweise wenig Geld wäre die Zukunft des Kinos auch für ein weiteres Jahrhundert gesichert.