Schwäbische Zeitung (Biberach)
„Reserven so gefährlich weit herunterzufahren, ist fragwürdig“
Deutschlands oberste Krankenkassen-Chefin Doris Pfeiffer über die Finanzlage der Kassen in Zeiten der Pandemie
BERLIN - Die Chefin des Spitzenverbandes der gestlichen Krankenkassen (GKV) warnt vor einem Spargesetz für Patienten nach der Bundestagswahl. „Man kann sicher sein, dass die Finanzlage der Kassen spätestens nach der Wahl auf den Tisch kommen wird“, sagte Doris Pfeiffer, im Interview mit Guido Bohsem. Schon früher habe es Gesetze gegeben, mit denen fehlendes Geld mit einer Hauruck-Aktion eingesammelt werden sollten.
Frau Pfeiffer, ganz Europa wird nun gegen Corona geimpft. Gehen Sie beruhigt in das neue Jahr?
Der gemeinsame Impfstart in Europa ist ein Signal der Hoffnung und stimmt mich froh, dass wir die Pandemie im Laufe des kommenden Jahres besiegen können. Aber wirklich beruhigt kann ich angesichts der vollen Intensivstationen, der vielen Toten und Schwerkranken nicht sein. Der Shutdown zeigt Wirkung, aber noch immer sind die Krankenhäuser voll und die Todeszahlen hoch.
Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage?
Das solidarische Gesundheitswesen der Bundesrepublik Deutschland ist mitten in seiner größten Prüfung. Ich bin sehr froh, dass wir über eine so robuste und leistungsfähige Gesundheitsversorgung verfügen.
Haben die Kassen genug Geld, um die Krise zu finanzieren?
Zu Beginn der Pandemie haben wir das Versprechen gegeben, alles, was medizinisch notwendig ist, zu finanzieren. Das ist gelungen. Einen wichtigen Beitrag hat aber auch der Bund geleistet, weil er den Krankenhäusern den Leerstand in der ersten Phase der Corona-Welle finanziert hat. Und es gab auch Entlastungen, weil zum Beispiel viele planbare Operationen, wie künstliche Hüftgelenke, abgesagt wurden. Da haben sich vielfach Mehr- und Minderausgaben ausgeglichen. Das Defizit von 1,7 Milliarden Euro bis Ende September ist darauf zurückzuführen, dass die Kassen ihre Reserven abbauen mussten und dazu etwa ihren Zusatzbeitragssatz nicht erhöht haben. Das ist kein Grund, für dieses Jahr Alarm zu schlagen.
Und wie sieht es im nächsten Jahr aus?
Der Schätzerkreis hat die voraussichtlichen Einnahmen bereits berechnet, in dieser Höhe bekommen die Krankenkassen auf jeden Fall das Geld aus dem Gesundheitsfonds. Falls die Einnahmen des Fonds nicht reichen, müsste der Bund einspringen. Da droht den Kassen also nichts. Allerdings wurde trotz der Sozialgarantie beschlossen, dass von den auf der Einnahmeseite fehlenden 16 Milliarden Euro der größte Teil von den Beitragszahlern finanziert werden muss. Etwa drei Milliarden Euro durch Beitragserhöhungen, acht Milliarden Euro aus den Rücklagen einzelner Kassen und fünf Milliarden Euro durch einen einmalig höheren Bundeszuschuss.
Sie hatten auf eine andere Aufteilung gedrängt?
Das ist richtig. Der Bundeszuschuss hätte aus unserer Sicht höher ausfallen müssen. So werden von den notwendigen 16 Milliarden Euro, elf Milliarden Euro aus Beitragsgeldern finanziert. Denn bei den Reserven handelt es sich ja auch um Geld der Beitragszahler. Ich halte es zudem für fragwürdig, die Reserven so gefährlich weit herunterzufahren. Es ist keine Strategie für die Zukunft, dauerhaft höhere Ausgaben durch einmalige Zuschüsse und das Auflösen von Rücklagen zu finanzieren.
Was heißt das für den Wettbewerb zwischen den Kassen?
Die Kassen, die gut gewirtschaftet haben, müssen jetzt ihre Reserven sozialisieren. Das hat natürlich den Effekt, dass die Kassen künftig genau überlegen müssen, ob sie so sparsam agieren, dass Reserven übrig bleiben.
Was hätte das für Folgen?
Das wird man 2021 nach der Bundestagswahl sehen. Die Reserven der Kassen sind dann aufgebraucht, und auch die Lage im Bundeshaushalt dürfte alles andere als rosig aussehen.
Sollte das nicht zum Thema des Wahlkampfs werden?
Nun, ich weiß nicht, wer im Wahlkampf darüber sprechen will. Es ist ja kein angenehmes Thema. Aber man kann sicher sein, dass die Finanzlage der Kassen spätestens nach der Wahl auf den Tisch kommen wird. Auch früher gab es nach Bundestagswahlen Vorschaltgesetze, wo dann in einer Hauruckaktion das Geld eingesammelt werden sollte. Die hohen Ausgaben sind ja vom Gesetzgeber gewollt, und sie bleiben
● und zwar nicht nur wegen Corona.
Die Ausgaben kommen doch den Versicherten zugute …
Schön wär’s! Die zusätzlichen Ausgaben kommen zumeist nicht bei den Versicherten an, sondern gehen auf das Konto der Leistungserbringer, also Ärzte, Apotheker, Krankenhäuser und so weiter.
Kommt es dann zu Leistungskürzungen?
Das hoffe ich nicht. Leistungskürzungen oder höhere Zuzahlungen sind für uns nicht das Mittel der
Wahl. Wir müssen uns anschauen, wie man die Versorgung effizienter und effektiver gestalten kann und zwar im Sinne der Versicherten.
Warum überweist der Bund denn nicht einfach dauerhaft mehr Geld?
Der Bund muss zahlen, aber für festgeschriebene und nachvollziehbare Ausgaben, die nicht Aufgabe der Krankenversicherung sind. Infektionsschutz, also Ausgaben für Massentests zum Beispiel, ist eine klassische Aufgabe des Bundes, weil es der gesamten Bevölkerung zugutekommt. Oder zum Beispiel die Beitragsfreiheit in der Elternzeit, das ist eine familienpolitische Maßnahme. Solche versicherungsfremden Leistungen müssen aus Steuergeldern finanziert werden, damit auch Beamte und Selbstständige einen Anteil daran haben. Zurzeit sind das im Jahr 14,5 Milliarden Euro.
Die Videosprechstunde hat in der Corona-Zeit ihren Durchbruch gefeiert. Bleibt es dabei?
Die Ärztekammern haben schon 2019 ihren langjährigen Widerstand gegen die telemedizinischen Behandlungen aufgegeben, was wir sehr begrüßt haben. In der CoronaZeit hat dann die Videosprechstunde deutlich an Volumen gewonnen.
Nun stellte sich die Frage, in welchen Fällen das auch sinnvoll und notwendig ist, und wann mehr technische Spielerei. Auch sind viele Mediziner etwa der Auffassung, dass die Videosprechstunde nur schwer in den Praxisalltag zu integrieren ist. Es ist eben ein Unterschied, ob die Praxismitarbeiter den Patienten vom Wartezimmer ins Sprechzimmer schicken, oder ob sie eine Videokonferenz herstellen müssen.
Aber die Patienten schätzen doch das Angebot …
Die Frage ist, ob es wirklich die breite Masse ist, die sich eine Videosprechstunde wünscht. Bei den allermeisten steht doch der persönliche Austausch an erster Stelle. Das persönliche Patienten-Arzt-Gespräch bleibt der Goldstandard, die Videosprechstunde ist eine sinnvolle Ergänzung, die natürlich weiter möglich sein sollte. Für die Patienten einer normalen Hausarztpraxis ist sie aber wahrscheinlich nicht geeignet. Ich habe die Sorge, dass diese Entwicklung an den Bedürfnissen vieler Patienten vorbeigeht.
Derzeit tobt die Diskussion über die Wirkung der Corona-App. Verhindert der Datenschutz, dass wir besser gegen die Pandemie kämpfen und Leben schützen können?
Als Spitzenverband der Krankenkassen haben wir auf die App keinen Einfluss. Ich persönlich begrüße es, dass diese App keine Ortung beinhaltet und insofern keine Nachverfolgung möglich ist. Da halte ich den Datenschutz für gerechtfertigt. Der Staat sollte nicht nachverfolgen dürfen, wo ich gehe und stehe. Die Erfolge der asiatischen Länder bei der Nachverfolgung der Infektionsketten sind erkennbar, ja, aber wir müssen auch den Preis dafür bedenken. Mich bedrückt ein anderes Problem in diesem Zusammenhang.
Welches?
Die Ausstattung der Gesundheitsämter ist katastrophal. Diese Einrichtungen sind in den vergangenen Jahrzehnten massiv zusammengespart worden. Das kritisieren wir schon seit Ewigkeiten und Corona hat den Ländern nun die Quittung dafür präsentiert. Was viel wichtiger ist als die App: Die technische und die personelle Ausstattung der Gesundheitsämter muss stimmen.