Schwäbische Zeitung (Biberach)
Mit Solidarität zur Normalität
N● ie war Solidarität in Deutschland wichtiger als heute: Geimpfte müssen in den nächsten Wochen auf Nicht-Geimpfte Rücksicht nehmen, Junge auf Alte. Auch darf es keine Privilegien für Geimpfte geben, solange der Impfstoff knapp ist und richtigerweise nach Risikogruppen geimpft wird. Unsere Gesellschaft lebt das „Miteinander-Füreinander“.
Doch spätestens Ende kommenden Jahres, wenn genügend Impfstoff verfügbar sein wird, dürfte sich die Frage nach Solidarität neu stellen: Dann werden Geimpfte Impfskeptikern oder -verweigerern gegenüberstehen und ihre Rechte auf das „Zurück ins alte Leben“einfordern.
Arbeitgeber, Gastronomen, Sportler oder Reiseveranstalter werden von ihren Mitarbeitern, Gästen, Teamkollegen oder Reiseteilnehmern erwarten, dass sie sich impfen lassen – oder sie irgendwann ausschließen. Wer dann geimpft ist, wird sich nicht weiter von Impfgegnern unter Berufung auf Solidarität einschränken lassen.
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“Auf der Grundlage dieses Gedankens des Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde sollte die Regierung durch Information über das Virus, den Impfstoff, seinen Nutzen, seine Risiken die Voraussetzung für eine breite Diskussion schaffen. Immerhin sind erst 32 Prozent der Deutschen zu einer schnellen Immunisierung bereit. Gleichzeitig aber muss die Regierung deutlich machen, dass nur eine freiwillige Massenimmunisierung als gemeinsames Zeichen der Solidarität den Weg „zurück ins alte Leben“ebnen wird.
Diese Solidarität erfordert von jedem Einzelnen die eigene, kritische Auseinandersetzung mit dem Impfstoff und seinem Nutzen, möglichen Nebenwirkungen und Risiken. Im Zentrum muss eine ethisch begründete Abwägung stehen: Wie ist das eigene, aus heutiger Sicht sehr geringe Risiko der Impfung im Vergleich zu jenem Risiko zu bewerten, bei NichtImpfung andere anzustecken oder selbst schwer zu erkranken?