Schwäbische Zeitung (Biberach)
Die Grenzen der Gewalt
Der deutsche Beitrag in Venedig „Und morgen die ganze Welt“ist engagiertes Polit-Kino
●
VENEDIG - Gestern hatte bei den Filmfestspielen der deutsche Beitrag Premiere. Die Münchner Regisseurin Julia von Heinz erzählt eine autobiografische Geschichte aus ihrer eigenen Vergangenheit in der Antifa.
Luisa studiert Jura im ersten Semester. Eine höhere Tochter aus landadeliger Familie. Es gibt viel Platz in dem großen alten Haus mit prachtvollem Garten, am Wochenende geht man auf die Jagd, trägt ein schilfleinenes Jankerl oder BarbourJacket und dazu Trachtenhut, das Haus birgt einen Golfschrank, einen Waffenschrank und viele alte Bücher.
Ihre Eltern sind freundlich, nachsichtig, tolerant, auch dann als die Tochter in eine linke Kommune zieht, Antifa. Schließlich sind wir doch alle gegen Faschismus, nicht wahr? Und auch der altväterlich-gönnerhafte Spruch: „Wer mit 20 nicht Kommunist ist, hat kein Herz“, darf hier nicht fehlen. Man tut das alles lächelnd ab: „Freie Liebe und so und abends Gruppendiskussion.“
Von den ersten Minuten des Films an ist Luisa einerseits „die Neue“in der Antifa-Gruppe und im besetzten Haus, mit deren Augen man alles kennenlernt; andererseits gehört sie hier irgendwie doch nie ganz dazu. Denn die Verhältnisse, aus denen sie kommt, sind allzu gesichert; ihr zumindest kann nicht wirklich etwas passieren. Das merkt man, sobald es in diesem Film ans Eingemachte geht, sobald sich Luisa politisch radikalisiert.
Am Anfang ist aber alles ganz harmlos. Im Juraseminar geht es um Artikel 20 des Grundgesetzes. Das darin festgeschriebene Recht auf Widerstand gehört zum Jurastandardwissen, den Zuschauern wird es gleich dreimal sehr deutlich gesagt. Und dies ist ein wichtiger Punkt: Denn heute berufen sich Neonazis und Rechtsextremisten aufs Widerstandsrecht – gegen die demokratische Ordnung.
Überhaupt sind die Anspielungen auf die Wirklichkeit mit Händen zu greifen. „Und morgen die ganze Welt“ist engagiertes, politisches Kino, das versucht, die gängige Moralisierung des Politischen zu vermeiden, andererseits vor direkten Verweisen auf aktuelle Geschehnisse und Akteure nicht zurückschreckt, auch wenn diese bestimmt nicht allen gefallen werden. So sieht man, wie die Antifa-Gruppe gegen eine Kundgebung demonstriert, deren Plakate unverkennbar im Stile der AfD gestaltet sind. Und die Rednerin sieht einer Alice Weidel zum Verwechseln ähnlich.
Nicht weniger klar streitet dieser Film gegen die verlogene, abwiegelnde Formulierung vom Rechtspopulismus, und zeigt, dass es sich um Extremisten handelt, und dass die Übergänge von der parlamentarischen Rechten zur gewaltbereiten und gewalttätigen Neonazi-Szene fließend sind.
Wir werden Zeugen dieser Vernetzung, weil wir gewissermaßen der Antifa bei der Arbeit zusehen. Der Film zeigt, was diese geschlossenen Gesellschaften der radikalen Linken eigentlich den ganzen Tag machen.
Das beschränkt sich nämlich nicht auf Musik hören, gemeinsam abhängen, Fitnesstraining für die nächste Demo, Plakate malen, Containern, und Klamotten für Flüchtlinge sammeln. Oft genug übernehmen die Antifa-Mitglieder nämlich jene Arbeit, die man sich von den Behörden wünschen und erwarten würde: Beobachtung der Neonazi-Szene, Beobachtung jener vielen Übergänge zwischen offenem Faschismus und gewalttätigen Spießertum, die Erkundung jener Garagen, in denen Mitgliederlisten der Organisation lagern, aber auch all der Keller, in denen schon der Sprengstoff und die Munition für den nächsten Terroranschlag bereitgehalten wird.
Die Stärken von Julia von Heinz’ Film liegen in dieser Geschichte und in einer Menge sprechender Details, sie liegen darin, mit der Stadt Mannheim einen facettenreichen, hochinteressanten Schauplatz gewählt zu haben, der vom deutschen Kino bislang fast komplett übersehen wurde.
Sie liegen auch in einer Schauspielerriege mit vielen unbekannten Gesichtern, die durchweg stark spielen. Neben der Hauptdarstellerin Mala Emde als Luisa sind hier Noah Saavedra und Tonio Schneider hervorzuheben. Außerdem der Österreicher Andreas Lust, der einen desillusionierten Veteranen der Antifa spielt.
Defizite gibt es allerdings im Ästhetischen: Nicht so sehr in der Inszenierung des Einzelnen als im grundsätzlichen Fehlen einer Filmsprache und einer Regiehaltung. Immer wieder bleibt es beim Bebildern der Ereignisse, und es gibt wenige Momente, die über nackten Realismus hinausgehen. Ausgeglichen wird diese Unentschiedenheit nicht allein durch die hochsympathische Haltung, sondern auch durch den Mut der Regisseurin, inhaltlich, moralisch wie politisch dahin zu gehen, wo es weh tut: zu den Debatten um Gewalt und die Frage, wann diese gerechtfertigt sein könnte.
Zwar zeigt der Film eine Hauptfigur, die der Gewalt – so scheint es am Ende – abschwört. Aber eines macht dieser Film angesichts der alltäglichen Gewalt der Rechtsextremisten sehr klar: Keine Gewalt ist auch keine Lösung.