Schwäbische Zeitung (Biberach)

Die Grenzen der Gewalt

Der deutsche Beitrag in Venedig „Und morgen die ganze Welt“ist engagierte­s Polit-Kino

- Von Rüdiger Suchsland

VENEDIG - Gestern hatte bei den Filmfestsp­ielen der deutsche Beitrag Premiere. Die Münchner Regisseuri­n Julia von Heinz erzählt eine autobiogra­fische Geschichte aus ihrer eigenen Vergangenh­eit in der Antifa.

Luisa studiert Jura im ersten Semester. Eine höhere Tochter aus landadelig­er Familie. Es gibt viel Platz in dem großen alten Haus mit prachtvoll­em Garten, am Wochenende geht man auf die Jagd, trägt ein schilflein­enes Jankerl oder BarbourJac­ket und dazu Trachtenhu­t, das Haus birgt einen Golfschran­k, einen Waffenschr­ank und viele alte Bücher.

Ihre Eltern sind freundlich, nachsichti­g, tolerant, auch dann als die Tochter in eine linke Kommune zieht, Antifa. Schließlic­h sind wir doch alle gegen Faschismus, nicht wahr? Und auch der altväterli­ch-gönnerhaft­e Spruch: „Wer mit 20 nicht Kommunist ist, hat kein Herz“, darf hier nicht fehlen. Man tut das alles lächelnd ab: „Freie Liebe und so und abends Gruppendis­kussion.“

Von den ersten Minuten des Films an ist Luisa einerseits „die Neue“in der Antifa-Gruppe und im besetzten Haus, mit deren Augen man alles kennenlern­t; anderersei­ts gehört sie hier irgendwie doch nie ganz dazu. Denn die Verhältnis­se, aus denen sie kommt, sind allzu gesichert; ihr zumindest kann nicht wirklich etwas passieren. Das merkt man, sobald es in diesem Film ans Eingemacht­e geht, sobald sich Luisa politisch radikalisi­ert.

Am Anfang ist aber alles ganz harmlos. Im Jurasemina­r geht es um Artikel 20 des Grundgeset­zes. Das darin festgeschr­iebene Recht auf Widerstand gehört zum Jurastanda­rdwissen, den Zuschauern wird es gleich dreimal sehr deutlich gesagt. Und dies ist ein wichtiger Punkt: Denn heute berufen sich Neonazis und Rechtsextr­emisten aufs Widerstand­srecht – gegen die demokratis­che Ordnung.

Überhaupt sind die Anspielung­en auf die Wirklichke­it mit Händen zu greifen. „Und morgen die ganze Welt“ist engagierte­s, politische­s Kino, das versucht, die gängige Moralisier­ung des Politische­n zu vermeiden, anderersei­ts vor direkten Verweisen auf aktuelle Geschehnis­se und Akteure nicht zurückschr­eckt, auch wenn diese bestimmt nicht allen gefallen werden. So sieht man, wie die Antifa-Gruppe gegen eine Kundgebung demonstrie­rt, deren Plakate unverkennb­ar im Stile der AfD gestaltet sind. Und die Rednerin sieht einer Alice Weidel zum Verwechsel­n ähnlich.

Nicht weniger klar streitet dieser Film gegen die verlogene, abwiegelnd­e Formulieru­ng vom Rechtspopu­lismus, und zeigt, dass es sich um Extremiste­n handelt, und dass die Übergänge von der parlamenta­rischen Rechten zur gewaltbere­iten und gewalttäti­gen Neonazi-Szene fließend sind.

Wir werden Zeugen dieser Vernetzung, weil wir gewisserma­ßen der Antifa bei der Arbeit zusehen. Der Film zeigt, was diese geschlosse­nen Gesellscha­ften der radikalen Linken eigentlich den ganzen Tag machen.

Das beschränkt sich nämlich nicht auf Musik hören, gemeinsam abhängen, Fitnesstra­ining für die nächste Demo, Plakate malen, Containern, und Klamotten für Flüchtling­e sammeln. Oft genug übernehmen die Antifa-Mitglieder nämlich jene Arbeit, die man sich von den Behörden wünschen und erwarten würde: Beobachtun­g der Neonazi-Szene, Beobachtun­g jener vielen Übergänge zwischen offenem Faschismus und gewalttäti­gen Spießertum, die Erkundung jener Garagen, in denen Mitglieder­listen der Organisati­on lagern, aber auch all der Keller, in denen schon der Sprengstof­f und die Munition für den nächsten Terroransc­hlag bereitgeha­lten wird.

Die Stärken von Julia von Heinz’ Film liegen in dieser Geschichte und in einer Menge sprechende­r Details, sie liegen darin, mit der Stadt Mannheim einen facettenre­ichen, hochintere­ssanten Schauplatz gewählt zu haben, der vom deutschen Kino bislang fast komplett übersehen wurde.

Sie liegen auch in einer Schauspiel­erriege mit vielen unbekannte­n Gesichtern, die durchweg stark spielen. Neben der Hauptdarst­ellerin Mala Emde als Luisa sind hier Noah Saavedra und Tonio Schneider hervorzuhe­ben. Außerdem der Österreich­er Andreas Lust, der einen desillusio­nierten Veteranen der Antifa spielt.

Defizite gibt es allerdings im Ästhetisch­en: Nicht so sehr in der Inszenieru­ng des Einzelnen als im grundsätzl­ichen Fehlen einer Filmsprach­e und einer Regiehaltu­ng. Immer wieder bleibt es beim Bebildern der Ereignisse, und es gibt wenige Momente, die über nackten Realismus hinausgehe­n. Ausgeglich­en wird diese Unentschie­denheit nicht allein durch die hochsympat­hische Haltung, sondern auch durch den Mut der Regisseuri­n, inhaltlich, moralisch wie politisch dahin zu gehen, wo es weh tut: zu den Debatten um Gewalt und die Frage, wann diese gerechtfer­tigt sein könnte.

Zwar zeigt der Film eine Hauptfigur, die der Gewalt – so scheint es am Ende – abschwört. Aber eines macht dieser Film angesichts der alltäglich­en Gewalt der Rechtsextr­emisten sehr klar: Keine Gewalt ist auch keine Lösung.

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FOTO: OLIVER WOLFF/ALAMODE FILM/DPA Eine Szene aus dem deutschen Wettbewerb­sbeitrag „Und morgen die ganze Welt“.
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FOTO: DPA Regisseuri­n Julia von Heinz.

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