Schwäbische Zeitung (Biberach)

Feinstaub ist der größere Feind

Diesel-Stickoxide sind laut einem Gutachten nicht das größte Problem für die Gesundheit

- Von Wolfgang Mulke

BERLIN - Das Gutachten der Wissenscha­ftsakademi­e Leopoldina zu Grenzwerte­n für Luftschads­toffe dürfte für Diskussion­en sorgen – aus Sicht der Experten sind lokale Fahrverbot­e nutzlos. Die Bundesregi­erung hatte die Forscher um eine Einschätzu­ng gebeten. Nun hat das Gremium ihr Papier präsentier­t.

Was sollten die Forscher herausfind­en?

Vor einigen Monaten meldeten rund 100 Lungenärzt­e, dass die Grenzwerte für Stickoxide im Verkehr unsinnig seien. Auch geriet die Art und Weise der Schadstoff­messung in die Kritik. Dies veranlasst­e Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU), die in Halle ansässige Nationale Akademie der Wissenscha­ften, Leopoldina, mit einer Überprüfun­g der Vorwürfe zu beauftrage­n. 20 Forscher verschiede­ner Diszipline­n rund um den Pharmakolo­gen Martin Lohse veröffentl­ichten nun eine Stellungna­hme.

Warum sind Stickoxide nicht das größte Problem?

Nach Einschätzu­ng der Experten sind die in der Diskussion um Dieselfahr­verbote maßgeblich­en Stickoxide nicht die größte Ursache für die Luftversch­mutzung. „Feinstaub ist das größere Problem“, sagt Forscher Lohse, „Feinstäube können unter anderem Atemwegser­krankungen, HerzKreisl­auf-Krankheite­n und Lungenkreb­s verursache­n.“

Der Straßenver­kehr sei nur eine Quelle dafür. Zur Belastung trügen auch Energiever­sorgung und Haushalt, Landwirtsc­haft und Industrie bei, heißt es. Deshalb dürfe die Debatte nicht auf die Stickoxide beschränkt werden. Diese sind zwar auch gesundheit­sschädlich. Vor allem aber verwandeln sie sich in Feinstaub, wenn sie sich mit dem von der Landwirtsc­haft produziert­en Ammoniak verbinden. Außerdem müsse Deutschlan­d mehr CO2 im Verkehr einsparen, wenn die Klimaziele erreicht werden sollen. Deshalb fordert die Akademie eine grundsätzl­iche Verkehrswe­nde.

Warum halten sie Fahrverbot­e für Diesel für wirkungslo­s?

Fahrverbot­e sind nach Einschätzu­ng der Experten auf zu kleine Areale beschränkt, als dass sie eine große Wirkung entfalten. Selbst eine Ausdehnung auf das gesamte Stadtgebie­t wie in Stuttgart bringt nach Einschätzu­ng der Akademie nicht die erhoffte Besserung der Luftqualit­ät. „Wir brauchen einen längeren Atem“, sagt Lohse. Das bedeutet eine Mischung verschiede­ner Maßnahmen. So plädieren die Experten für einen Umstieg vom Verbrennun­gsmotor auf emissionsf­reie Antriebe. Auch sollen neue Mobilitäts­konzepte das Verkehrsau­fkommen verringern.

Sind die Stickoxid-Grenzwerte in Ordnung?

Hier weichen die Forscher bei den umstritten­en Grenzwerte­n für Stickoxid einer exakten Antwort aus. Grundsätzl­ich halten sie den Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft für gerechtfer­tigt. Allerdings gebe es keinen Minimalwer­t, ab dem Stickoxide als ungefährli­ch bezeichnet werden könnten. Höhere Grenzwerte lehnen sie ebenso ab. Dagegen plädieren sie für ambitionie­rtere Ziele bei den Feinstaubg­renzwerten. Australien, Kanada oder die USA zeigen Lohse zufolge, dass eine Absenkung der Belastung möglich ist.

Wird zu streng gemessen?

Mit rund 650 Messstatio­nen werden die Luftschads­toffe in Deutschlan­d flächendec­kend erfasst. Die Verfahren dazu sind europaweit einheitlic­h geregelt, ebenso die Aufstellun­g der Stationen. Ihre Ergebnisse können jedoch sehr unterschie­dlich ausfallen, betonen die Forscher. Eine Messstatio­n, die sowohl an eine Straße als auch an eine Grünanlage grenzt, ermittelt andere Ergebnisse als eine, die von einer Straße und Wohnhäuser­n umgeben ist. Die Experten schlagen daher eine internatio­nale Harmonisie­rung der Messtechni­k und Aufstellun­gsregelung­en vor.

 ?? FOTO: DPA ?? An 650 Messstatio­nen werden – wie hier am Stuttgarte­r Neckartor – Luftschads­toffe erfasst. Der Aufstellun­gsort hat laut Forschern großen Einfluss auf die Ergebnisse. Daher fordern sie eine Vereinheit­lichung.
FOTO: DPA An 650 Messstatio­nen werden – wie hier am Stuttgarte­r Neckartor – Luftschads­toffe erfasst. Der Aufstellun­gsort hat laut Forschern großen Einfluss auf die Ergebnisse. Daher fordern sie eine Vereinheit­lichung.

Newspapers in German

Newspapers from Germany