Schwäbische Zeitung (Biberach)
Feinstaub ist der größere Feind
Diesel-Stickoxide sind laut einem Gutachten nicht das größte Problem für die Gesundheit
BERLIN - Das Gutachten der Wissenschaftsakademie Leopoldina zu Grenzwerten für Luftschadstoffe dürfte für Diskussionen sorgen – aus Sicht der Experten sind lokale Fahrverbote nutzlos. Die Bundesregierung hatte die Forscher um eine Einschätzung gebeten. Nun hat das Gremium ihr Papier präsentiert.
Was sollten die Forscher herausfinden?
Vor einigen Monaten meldeten rund 100 Lungenärzte, dass die Grenzwerte für Stickoxide im Verkehr unsinnig seien. Auch geriet die Art und Weise der Schadstoffmessung in die Kritik. Dies veranlasste Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die in Halle ansässige Nationale Akademie der Wissenschaften, Leopoldina, mit einer Überprüfung der Vorwürfe zu beauftragen. 20 Forscher verschiedener Disziplinen rund um den Pharmakologen Martin Lohse veröffentlichten nun eine Stellungnahme.
Warum sind Stickoxide nicht das größte Problem?
Nach Einschätzung der Experten sind die in der Diskussion um Dieselfahrverbote maßgeblichen Stickoxide nicht die größte Ursache für die Luftverschmutzung. „Feinstaub ist das größere Problem“, sagt Forscher Lohse, „Feinstäube können unter anderem Atemwegserkrankungen, HerzKreislauf-Krankheiten und Lungenkrebs verursachen.“
Der Straßenverkehr sei nur eine Quelle dafür. Zur Belastung trügen auch Energieversorgung und Haushalt, Landwirtschaft und Industrie bei, heißt es. Deshalb dürfe die Debatte nicht auf die Stickoxide beschränkt werden. Diese sind zwar auch gesundheitsschädlich. Vor allem aber verwandeln sie sich in Feinstaub, wenn sie sich mit dem von der Landwirtschaft produzierten Ammoniak verbinden. Außerdem müsse Deutschland mehr CO2 im Verkehr einsparen, wenn die Klimaziele erreicht werden sollen. Deshalb fordert die Akademie eine grundsätzliche Verkehrswende.
Warum halten sie Fahrverbote für Diesel für wirkungslos?
Fahrverbote sind nach Einschätzung der Experten auf zu kleine Areale beschränkt, als dass sie eine große Wirkung entfalten. Selbst eine Ausdehnung auf das gesamte Stadtgebiet wie in Stuttgart bringt nach Einschätzung der Akademie nicht die erhoffte Besserung der Luftqualität. „Wir brauchen einen längeren Atem“, sagt Lohse. Das bedeutet eine Mischung verschiedener Maßnahmen. So plädieren die Experten für einen Umstieg vom Verbrennungsmotor auf emissionsfreie Antriebe. Auch sollen neue Mobilitätskonzepte das Verkehrsaufkommen verringern.
Sind die Stickoxid-Grenzwerte in Ordnung?
Hier weichen die Forscher bei den umstrittenen Grenzwerten für Stickoxid einer exakten Antwort aus. Grundsätzlich halten sie den Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft für gerechtfertigt. Allerdings gebe es keinen Minimalwert, ab dem Stickoxide als ungefährlich bezeichnet werden könnten. Höhere Grenzwerte lehnen sie ebenso ab. Dagegen plädieren sie für ambitioniertere Ziele bei den Feinstaubgrenzwerten. Australien, Kanada oder die USA zeigen Lohse zufolge, dass eine Absenkung der Belastung möglich ist.
Wird zu streng gemessen?
Mit rund 650 Messstationen werden die Luftschadstoffe in Deutschland flächendeckend erfasst. Die Verfahren dazu sind europaweit einheitlich geregelt, ebenso die Aufstellung der Stationen. Ihre Ergebnisse können jedoch sehr unterschiedlich ausfallen, betonen die Forscher. Eine Messstation, die sowohl an eine Straße als auch an eine Grünanlage grenzt, ermittelt andere Ergebnisse als eine, die von einer Straße und Wohnhäusern umgeben ist. Die Experten schlagen daher eine internationale Harmonisierung der Messtechnik und Aufstellungsregelungen vor.