Schwäbische Zeitung (Biberach)
Vom schmalen Kochbuch der Banater Schwaben
1945 wurden Zehntausende Deutschstämmige in Osteuropa verschleppt – Einige der letzten Zeitzeugen leben in der Region
SPAICHINGEN/TEMESWAR - „Er war wie ein wildes Tier in unseren Körpern, das sich an uns satt gefressen hat.“So beschreibt Ignaz Fischer den größten Feind während seiner Deportation: den Hunger. Er hat den Kampf gegen das wilde Tier gewonnen – viele andere haben ihn verloren. Darüber sprechen dürfen die Verschleppten erst 45 Jahre später.
Im Januar 1945 wurden zwischen 60 000 und 70 000 Deutschstämmige aus Rumänien in die Sowjetunion verschleppt. Schätzungsweise 10 000 davon kehrten nicht in die Heimat zurück. Sie mussten Reparationsarbeit leisten, für die Zerstörungen durch die deutschen Truppen im Zweiten Weltkrieg. Bis zum August 1944 kämpfte Rumänien noch an der Seite des Deutschen Reichs, nach einem Staatsstreich wendete sich das Land gegen Hitler. Sowjetische Truppen besetzten Rumänien.
Stalin wollte volksdeutsche Arbeitskräfte für den Wiederaufbau. Männer zwischen 16 und 45 Jahren, Frauen zwischen 17 und 30 Jahren. „Er hätte ja keine Bayern oder Hessen nehmen können“, sagt Fischer, der heute im rumänischen Temeswar dem Verein der ehemaligen Russlanddeportierten vorsitzt. Und Stalin fand sie. Nicht nur in Rumänien, auch in der Sowjetunion, Ungarn, der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Bulgarien.
In Rumänien betraf es Volksgruppen wie die Siebenbürger Sachsen und die Banater Schwaben. Wie der im rumänischen Temeswar lebende Ignaz Fischer einer ist. Und auch Anna Friedrich, die heute in Aldingen bei Spaichingen lebt. Wie sie sind nach der politischen Wende in Rumänien Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre viele Rumäniendeutsche nach Baden-Württemberg ausgewandert. Ihre Geschichten haben sie mitgebracht.
Friedrich ist eine 91-Jährige mit klaren und leuchtend blauen Augen. Ihre Erinnerungen an die Zeit im Lager sind auch nach mehr als 70 Jahren noch lebendig. „Mit 17 Jahren wurde ich deportiert“, sagt sie mit fester Stimme. Das Deutsch, das sie spricht, ist das ihrer Heimatgemeinde Darova im Südwesten Rumäniens: mit rollendem „r“und pfälzisch-fränkischem Zungenschlag. „18 wurde ich dann schon im Lager.“
Vor dem ersten Transport kann sie sich noch verstecken. Auch vor dem zweiten. Aber im dritten Transport sitzt Anna Friedrich, die damals noch Wibiral heißt, im Eisenbahnwagon in Richtung Sowjetunion. „In die Viehwagen haben sie so viele Leute gepackt, wie es irgendwie ging“, erinnert sie sich. Holzpritschen in zwei Stockwerken an den Wänden als Schlafmöglichkeit. Die Fenster mit Stacheldraht verschlossen. In der Mitte ein großer Eisenofen als einzige Wärmequelle. Als Toilette dient ein Loch im Boden – der einzige Sichtschutz ist eine hochgehaltene Decke. „Da hatten wir auch schon den ersten Läusebefall.“
Anna Friedrich und Ignaz Fischer kennen sich nicht. Auch ihre Zeit in der Deportation verbringen sie in
verschiedenen Lagern in der Ukraine. Friedrich in Wolodarka, Fischer in Saporischschja. Aber was sie erzählen, das eint sie.
Auch Fischer ist heute 91. Als sie ihn Anfang Januar 1945 aus dem Internat in Temeswar holen und ins Arbeitslager schicken, ist er gerade einmal 18. Im Februar in Saporischschja angekommen bezieht er, mitten im Winter, ein Zeltlager. Kleine Holzöfen heizen die Schlafstätten. „Wer eine Decke hatte, hatte Glück. Wer nicht, hatte Pech“, erinnert er sich.
Die Lagerinsassen sollen eine Aluminiumfabrik wieder aufbauen, die im Krieg von den deutschen Truppen zerstört worden war. „Wer etwas gelernt hatte, wurde in seinem Beruf eingesetzt. Aber ich war Schüler, deswegen musste ich die schwerste körperliche Arbeit machen“, sagt Fischer. Nämlich die Fundamente der Fabrik in den gefrorenen Boden zu graben.
Das Lager von Anna Friedrich arbeitet in Kohlegruben. Die Arbeit ist hart und gefährlich. Nicht selten gibt es Unfälle. Manche tödlich. Der Mann, der später ihr Schwiegervater geworden wäre, verliert bei einem Unglück in der Kohlegrube sein Leben. Von den rund 350 Deportierten aus Darova kommen etwa 50 nicht zurück. Friedrich hat Glück, sie wird für vergleichsweise leichte Arbeit eingesetzt. Erst muss sie die geförderte Kohle prüfen, später sicherstellen, dass die gemahlene Kohle ein Sieb nicht verstopft. Trotzdem ist es keine ungefährliche Arbeit. Einmal quetscht sie sich die Hand an einer Lore, dass es ihr das Fleisch an Zeige-, Mittel- und Ringfinger von der Handfläche weg nach oben schiebt. Ein andermal reißt ihr ein Haken an einer Lore ein Loch in den Oberschenkel.
„Ich musste zur Krankenstation laufen“, sagt sie. „Da hatte ich schon das ganze Blut in den Schuhen.“
Friedrich und Fischer, beide erinnern sich lebhaft an die Kälte. „Es war so kalt, dass man ständig in Bewegung bleiben musste“, sagt Friedrich. „Manchmal ging der Wind so scharf, dass das Kopftuch festgefroren ist.“Schlimmer aber noch als die Kälte ist der Hunger. „Morgens gab es zwei Tassen Tee“, sagt Fischer. „Den habe ich aber meistens genommen, um mir das Gesicht zu waschen, weil er warm war.“Täglich bekommen die Deportierten 700 Gramm Brot. „Das klingt zwar viel, aber wer sein Soll nicht erfüllt hat, dem wurden 200 Gramm weggeschnitten. Und weiß Gott, was in dem Brot drin war.“
Der Hunger, ein wildes Tier
Außerdem gibt es Suppe mit Kraut, Rüben oder auch Tomaten, erzählt Fischer. Jeden Tag und nie genug. „Ich sage immer, das Kochbuch für Deportierte hat nur eine Seite.“Worüber der 91-Jährige heute scherzen kann, das belastete ihn als jungen Mann schwer. „Viele sind so schnell abgemagert“, erinnert er sich.
Zu wissen, dass er sich nicht satt essen kann – nicht heute, nicht morgen, nicht nächste Woche –, das deprimiert Fischer. „Natürlich sind die Leute der Reihe nach gestorben. Immer, wenn wir jemanden auf dem Friedhof begraben haben, habe ich mich gefragt, wann ich an der Reihe bin.“Fischer ist in einem Alter, in dem junge Männer eigentlich über Sport und Mädchen reden. Aber das einzige Thema im Lager ist Brot. „Manchmal habe ich darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn ich einschlafen würde und einfach nicht mehr aufwache. Dann wäre ich befreit gewesen.“
Was das Essen angeht, hat Anna Friedrich Glück: Sie hat Kontakte zum Koch. Aber auch bei ihr ist die Verpflegung spärlich. Nach etwa einem Jahr im Lager dürfen die Deportierten
ihre Habseligkeiten auf dem nächsten Markt verkaufen, um Geld zu verdienen und Lebensmittel zu kaufen. „Wer das nicht gemacht hat, der ist gestorben.“Davor seien sie Betteln gegangen, zu den Russen. „Die hatten es selbst schwer, aber sie hatten Mitleid und haben uns immer etwas gegeben“, erzählt Friedrich.
Auch Ignaz Fischer hat Kontakt zu den Russen. Mit seinem Unterfangen riskiert er allerdings Arrest und den Einsatz in der Strafbrigade. „Wir haben uns gesagt: ,Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott’ und haben Kohle und Holz aus der Fabrik gestohlen.“Durch ein Loch im Zaun, der das Lager umgibt, schlüpfen die jungen Männer „wie die Indianer“nach draußen und verkaufen ihr Diebesgut an die Russen. „Nur dadurch sind wir am Leben geblieben. Wer zu ängstlich war, der ist gestorben.“Sein Leben als Lager-Indianer hat einen weiteren positiven Effekt: „Dadurch habe ich gemerkt, dass ich nicht völlig hilflos bin. Und auch die Kameradschaft hat das gestärkt.“
1948 bessert sich die Lage dramatisch. Fischer und Friedrich werden für ihre Arbeit bezahlt, es gibt mehr und besseres Essen. Ende 1949 dann endlich die erlösende Nachricht. Bei dieser Erinnerung leuchten die blauen Augen von Anna Friedrich, mit einem breiten Lächeln erzählt sie: „Ein Offizier hat gesagt ,Mädels, antreten. Ich sage euch etwas, über das ihr euch sicher freut. Jetzt geht es heim’.“Sie reißt die Arme in die Luft. „Da sind wir alle in die Höhe gesprungen und haben getanzt.“Es geht zurück in die Heimat. Aber weil die rumänische Regierung der Verschleppung offiziell zugestimmt hat, schwindet das Vertrauen der Banater Schwaben in den Staat. Nach der rumänischen Revolution 1989, als das Land seine Grenzen öffnet, bietet sich die große Gelegenheit zu gehen.
Nicht nur die Grenzen öffnen sich, auch die Münder. „Das rumänische Regime hat verboten, über die Deportation zu sprechen“, sagt Fischer. „Erst 1990 konnten wir dann den Mund aufmachen.“Und Ignaz Fischer hat seine Geschichte seither schon unzählige Male erzählt, das merkt man ihm an. Er ist nicht der Einzige, der zu sprechen beginnt. Im Februar 1990 gründet er den Verein der ehemaligen Russlanddeportierten und fordert Entschädigung für die Zeit im Lager.
Die gibt es noch im selben Jahr. Informationen der Landsmannschaft der Banater Schwaben zufolge werden seit 1990 für jedes Jahr im Lager rund 100 Euro pro Monat bezahlt. Also maximal 500 Euro. 2009 wurde diese Entschädigung auch auf Verschleppte ausgeweitet, die nicht mehr in Rumänien leben. Dadurch profitieren etwa auch ehemals Verschleppte in Baden-Württemberg.
„Heute sind es insgesamt noch etwa 300, die damals deportiert wurden.“Ignaz Fischer ist als Vorsitzender gut informiert. Die Jüngsten sind um die 90. Fischer sagt, er weiß nicht, wie lange es sie noch geben wird. Die Männer und Frauen, die über Jahre mit dem wilden Tier im eigenen Körper gekämpft haben.
„Manchmal habe ich darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn ich einschlafen würde und einfach nicht mehr aufwache.“Ignaz Fischer über seine Zeit im Arbeitslager