Schwäbische Zeitung (Biberach)
Erdogan-Kritiker setzen ihre Hoffnung auf Europa-Richter
Der Türkei-Vorsitzende von Amnesty International, Taner Kilic, muss weiter in Untersuchungshaft bleiben. Ein Istanbuler Gericht hatte seine eigene Entscheidung für eine Haftentlassung gekippt. Das Gericht gab damit dem Einspruch der Staatsanwaltschaft statt. Der Fall Kilic ist nicht der erste seiner Art.
Die größtenteils auf Regierungslinie gebrachte Justiz in der Türkei setzt alles daran, mutmaßliche Kritiker von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hinter Gittern zu halten, wenn sie einmal inhaftiert sind. Da Gegner der Erdogan-Regierung von den Gerichten in ihrem Land keine gerechte Behandlung mehr erwarten, setzen sie immer mehr auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Die EuropaRichter sind ihre letzte Hoffnung – das gilt auch für den inhaftierten deutschtürkischen Journalisten Deniz Yücel. Den Straßburger Richtern liegen Klagen des „Welt“-Reporters Yücel sowie von mehreren inhaftierten türkischen Journalisten vor.
Die Begründung für Kilics Inhaftierung wirkt absurd: Der Menschenrechtler soll eine Handy-App benutzt haben, die bei Anhängern des mutmaßlichen Putschisten Fethullah Gülen verbreitet war – vor Gericht sagten Experten aber aus, es gebe keine Spuren der App auf Kilics Mobiltelefon. Die Anklage bringt Kilic außerdem mit einem Menschenrechtsseminar in Istanbul im vorigen Sommer in Zusammenhang, das zur monatelangen Inhaftierung des deutschen Aktivisten Peter Steudtner führte. Daraus leitet die Staatsanwaltschaft den Vorwurf terroristischer Umtriebe ab.
Vor wenigen Wochen verweigerten türkische Gerichte die Freilassung der regierungskritischen Kolumnisten Sahin Alpay und Mehmet Altan, obwohl das Verfassungsgericht in Ankara deren Haftentlassung angeordnet hatte. Ein Grundsatz des Europäischen Menschenrechtsgerichts lautet, dass Beschwerdeführer alle Instanzen in ihren eigenen Ländern ausgeschöpft haben müssen, bevor sich Straßburg ihrer Sache annimmt. Da in der Türkei jetzt selbst das Wort des Verfassungsgerichts nichts mehr gilt, werden die Europa-Richter zur obersten Instanz: Als Ober-Aufseher fällt den Straßburger Richtern die Aufgabe zu, Grundsatzurteile für den Umgang der Türkei mit gewaltfreien Regierungsgegnern zu fällen. Zumindest theoretisch muss sich die Türkei als Mitglied des Europarates den Urteilen aus Straßburg beugen.
Maas: Stellungnahme im Fall Yücel
In Straßburg wächst der Druck auf die Türkei. Die Bundesregierung schrieb in ihrer Stellungnahme an den EGMR, die lange Untersuchungshaft des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel stehe „nicht im Einklang mit den in Artikel 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierten Rechten und Freiheiten“. Die Bundesregierung sieht in der Inhaftierung Yücels einen Angriff auf die Pressefreiheit, da dieser ausschließlich wegen seiner Berichterstattung im Gefängnis sei. „Jede Unterdrückung von kritischer Berichterstattung ist mit unserem Verständnis von Pressefreiheit nicht vereinbar“, erklärte Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD).
Ankara setzt offenbar generell auf eine Verzögerungstaktik. Im Fall von Alpay und Altan erklärte Ankara, die Betroffenen könnten sich erneut ans Verfassungsgericht wenden – damit wäre Straßburg erst einmal wieder aus dem Spiel, weil es noch eine Berufungsmöglichkeit in der Türkei gäbe. Die Frage ist, ob der Europäische Gerichtshof dieses Spiel mitmacht.