Schwäbische Zeitung (Biberach)
Eskalation der Gewalt in Rio de Janeiro
Mutter, ich glaube, dass ich bald sterben werde, durch einen Kopfschuss.“Drei Monate später starb Polizist Joao Vitor genau so, wie er es vorausgesagt hatte. Mit Tränen in den Augen steht seine Mutter vor seiner Gedenktafel, angebracht an einem Geländer an der Rodrigo de Freitas Lagune im Süden der Stadt.
Auf ihr sind die Namen der seit Januar in Rio getöteten Polizisten zu lesen. Bisher 91, nahezu täglich kommen neue dazu. „Wir bekommen die Quittung für die Verrücktheit, mit öffentlichen Geldern hier Olympische Spiele zu organisieren, während die Armenviertel und die soziale Ungleichheit weiter wuchsen“, sagt Antonio Carlos Costa, Gründer der Menschenrechtsorganisation „Rio de Paz“.
Im vergangenen Jahr starben in der Stadt 87 Polizisten, auch das war schon ein extremer Wert. Jetzt sind es bereits zur Jahresmitte mehr. Die mit modernsten Waffen ausgerüsteten Drogenbanden sind in die Offensive gegangen, erobern Zug um Zug die Armenviertel zurück, die sie seit 2008 an den Staat verloren hatten.
Zwischen 2008 und 2014 waren in 38 Favelas rund 10 000 Beamte stationiert worden, um die Macht der Drogenbanden zu brechen. Das System der Befriedungspolizei UPP galt als Erfolgsmodell. Doch seit Rio Mitte 2016 den finanziellen Notstand ausrief, sinkt angesichts ausstehender Solde die Moral der Truppe.
Gleichzeitig machen manche Polizisten mit den Drogenbanden gemeinsame Sache. Ende Juni wurden 96 Beamte wegen Korruption festgenommen. Sie sollen am Drogengeschäft mitverdient haben. Anfang dieser Woche wurden 18 Beamte festgenommen, die in Armenvierteln den Verkauf von Trinkwasser, Kochgas und Kabelfernsehen sowie den illegalen Personentransport organisiert hatten. Rios Polizei gilt nicht nur als besonders korrupt, sondern auch als so tödlich wie kaum eine andere in der Welt. 1227 Menschen hat sie zwischen Januar 2016 und März 2017 laut offiziellen Zahlen getötet. 90 Prozent davon dunkelhäutige Männer aus den Armenvierteln.
Die Zentralregierung im fernen Brasilia scheint dieser Polizei von Rio nicht mehr zuzutrauen, für Sicherheit sorgen zu können. Bis Ende 2018 sollen nun Truppen des Bundesheeres strategische Positionen in der Stadt besetzen. Rund 8500 Soldaten schickt Präsident Temer nach Rio de Janeiro.
Ob man das Ruder herumwerfen kann? „Das Sicherheitssystem von Rio ist komplett korrupt, es schickt diese Jungs auf die Straßen der Stadt ohne ein Minimum an Schutz“sagt Marilda Bastos da Silva Pereira, Joao Vitors Mutter. Ihr Sohn habe daran geglaubt, dass man das System reinigen könne. Wenige Tage vor seinem Tod berichtete er seiner Mutter stolz, dass er demnächst in das interne Dezernat zur Korruptionsbekämpfung versetzt werde. Doch eine Kugel beendete seinen Traum. (KNA)