Schwäbische Zeitung (Biberach)
„Radar“macht mögliche Attentäter sichtbar
System zur Risikobewertung von Gefährdern wird eingeführt – Von Uni Konstanz mitentwickelt
RAVENSBURG - Eine Akte, ein Fragebogen und ein Computer mit Excel – viel mehr werden die auf Terrorismusbekämpfung spezialisierten Polizisten demnächst nicht brauchen, um vorherzusagen, ob ein islamistischer Gefährder wohl einen Anschlag begehen wird oder nicht. Im Juli kommt bundesweit ein neuer Detektor zum Einsatz, mit dem die Behörden potenzielle Attentäter frühzeitig entdecken und Anschläge wie der von Anis Amri in Berlin verhindern wollen. Das System „Radar-iTE“wurde vom Bundeskriminalamt (BKA) und der Universität Konstanz entwickelt.
Deutschland sei „in der Priorität des IS aufgestiegen“, stellte im Mai Verfassungsschutzpräsident HansGeorg Maaßen fest. Er warnte vor Rückkehrern aus Kampfgebieten und Islamisten, die sich „die schwächsten Stellen“für Attacken aussuchten und „von der Kalaschnikow bis zum Küchenmesser“alles verwenden würden, um die Gesellschaft zu treffen.
Ressourcen konzentrieren
670 gewaltbereite Gefährder zählt das BKA bundesweit. Nach Informationen der „Schwäbischen Zeitung“liegt diese Zahl im Südwesten heute im mittleren zweistelligen Bereich. Noch einmal so viele Islamisten werden beim Innenministerium in Stuttgart als „relevante Personen“geführt, dazu zählen etwa militante Konvertiten und salafistische Werber. In Bayern gibt es 44 Gefährder. Eine der wichtigsten Fragen, die seit Amris Anschlag im Dezember 2016 die Polizei umtreibt, lautet: Wie schafft man es, die verfügbaren Ressourcen vor allem auf die Überwachung jener Islamisten zu konzentrieren, die Terrorangriffe vorbereiten würden?
Valerie Profes benutzt gerne den Ausdruck „sichtbar machen“, wenn sie vom neuesten Instrument in ihrem polizeilichen Werkzeugkasten spricht. Die Leiterin des Fachbereichs „Operative Fallanalyse und Risikobewertung“beim BKA sieht im „Radar“System eine wirksame Möglichkeit, Extremisten unter einheitlichen Standards einzustufen und die entsprechenden Maßnahmen zu priorisieren. „Nicht von allen Gefährdern geht das gleiche Risiko aus, schwere Gewalttaten in Deutschland zu begehen. Angesichts der steigenden Islamistenzahl ist es notwendig, die Gefährder sichtbar zu machen, von denen ein höheres Risiko ausgeht“, sagt sie.
Seit März 2015 hat Profes das „Radar“mitentwickelt. Es basiert auf den Erkenntnissen der forensischen Psychologen der Uni Konstanz, die Profile von Gewaltstraftätern untersucht und einige Risikofaktoren definiert haben. Das weltweit einzigartige Instrument funktioniert etwa so wie die psychologischen Tests, in denen man Fragen beantworten muss, um später die Punkte zu zählen und sich in einer der vorgegebenen Kategorien wiederzufinden. Nur dass „Radar“die Persönlichkeitsmerkmale von möglichen Schwerverbrechern untersucht und vergleichbar macht.
„Es geht darum, das Verhalten einer Person in verschiedenen Lebensbereichen sichtbar zu machen“, erklärt Profes. Ein Experte in einem Polizeipräsidium oder Landeskriminalamt nutzt dazu Informationen aus einer Gefährder-Akte und beantwortet unter anderem folgende Fragen: Hatte die Person Umgang mit Waffen? Hat sie sich an Kampfhandlungen beteiligt? Wo und wie oft war sie im Ausland? Wie ist ihre Einbindung in die radikale Szene? Steckt der Betreffende in einer persönlichen Krise?
Drei Risiko-Kategorien
Neben den „risikoerhöhenden“gebe es „risikosenkende“Faktoren wie das nichtradikale soziale Umfeld eines Gefährders, erklärt Profes. Am Ende werde die Personen je nach Punktestand automatisch in drei Risiko-Kategorien einsortiert: hoch, auffällig oder moderat. Darauf abgestimmt könne die jeweilige Dienststelle die passenden „Interventionsmaßnahmen“wählen – zum Beispiel die Verwendung von elektronischen Fußfesseln bei potenziellen Terroristen. Um dies zu ermöglichen, soll im Land das Polizeigesetz geändert werden.
Nach Medienberichten wurde „Radar“in Tests mit Verhaltensdaten von jeweils 30 Attentätern, Gefährdern und „relevanten Personen“gefüttert, darunter Anis Amri. Das System soll ihn sofort als „hochgefährlich“eingestuft haben. Manche Kriminalisten haben dennoch Bedenken, dass mithilfe des Instruments Menschen ohne ihr Wissen faktisch vorverurteilt werden könnten, die bislang keine Verbrechen begangen haben. „Es werden nur Personen bewertet, die polizeilich auffällig sind“, erklärt hingegen Valerie Profes.
Das neue Instrument gilt als effizient, hat aber auch Schwachstellen: Sind potenzielle Attentäter neu in Deutschland und liegen den Behörden nicht genug Informationen über deren Verhalten vor, werden sie nicht mit „Radar“bewertet werden können. Zweites Manko: Die Informationen im System sollen aus Datenschutzgründen nicht regulär allen Polizeistellen zur Verfügung stehen.
Seit Herbst 2016 werden Polizisten aus ganz Deutschland im Umgang mit dem neuen Terrordetektor geschult. Laut Profes soll die eher einfach gestaltete Anwendung auf Excel-Basis später in eine komplexere Software integriert werden. Im BKA gibt es auch schon Pläne für eine Art „SuperRadar“: Ein Instrument namens „Riskant“wird das Gewaltrisiko von Gefährdern noch feiner kalkulieren und den Terroristenjägern „individuelle Maßnahmen“vorschlagen können.