Schwäbische Zeitung (Biberach)
Solidarität ist die zentrale Frage des Gipfels
In Brüssel werden neben Lösungen in der Flüchtlingskrise auch Zugeständnisse an Großbritannien verhandelt
- Offiziell geht es am heutigen Donnerstag und morgen in Brüssel darum, mit welchen Zugeständnissen Großbritannien in der EU gehalten werden kann, und wie man es schafft, möglichst viele Flüchtlinge von der Wanderung gen Norden abzuhalten. In Wahrheit aber ist Europa an einem sehr grundsätzlichen Punkt angelangt. Auf der Tagesordnung des EU-Gipfels steht die Frage, zu wie viel Solidarität und Lastenteilung die Mitgliedsstaaten bereit sind und wie viele Egotrips einzelner Mitglieder die EU noch verkraften kann.
Seit Wochen arbeiten Fachbeamte an juristischen Formeln, die briti-
BRÜSSEL
schen Euroskeptikern als Erfolg verkauft werden können, ohne den Kern der EU zu zerstören. Dabei geht es unter anderem um Mitspracherechte Londons bei Beschlüssen der Eurozonenmitglieder und den Ausschluss von EU-Ausländern von bestimmten Sozialleistungen.
EU-Ratspräsident Donald Tusk möchte erreichen, dass die Staatsund Regierungschefs bereits am ersten Gipfeltag eine Einigung finden. Wahrscheinlicher aber ist, dass nach der nachmittäglichen Arbeitssitzung beim Abendessen über Migrationsfragen geredet wird, während Juristen weiter an wasserdichten Sätzen feilen. Eine „Kommandozentrale“von Anwälten stehe dafür bereit, sagt ein Insider. Auch habe man ein „full English breakfast“mit Speck, Würstchen und gebackenen Bohnen im Angebot, falls die Staatschefs die ganze Nacht durcharbeiten müssten.
Kompromiss für Osteuropäer
Den osteuropäischen EU-Mitgliedern werde von den Briten ja auch viel abverlangt, heißt es aus Ratskreisen. Tusk ist selbst Pole. Für die Sorgen seiner Landsleute, die in Großbritannien auf dem Bau arbeiten, Steuern und Sozialabgaben zahlen, aber vier Jahre lang von steuerfinanzierten Sozialleistungen nicht profitieren sollen, hat er großes Verständnis. Deshalb soll die Sperre deutlich kürzer ausfallen. Die Osteuropäer wollen außerdem sicherstellen, dass aus dem britischen Sonderrecht kein Einfallstor für andere wird.
Die Aufgabe, den britischen Anspruch gesetzlich zu verankern, ohne ihn auf alle EU-Staaten anwendbar zu machen, stellt die Fachleute vor schier unlösbare Probleme. Aus Ratskreisen heißt es dazu, der juristische Erfindungsreichtum habe der EU schon über viele Krisen hinweg geholfen. Unklar ist auch, wie das Europaparlament auf das Gipfelergebnis eingeschworen werden soll. Sämtliche für die Reform nötigen neuen Gesetze müssen die Europaabgeordneten mehrheitlich billigen. Deshalb hat Großbritanniens Premier David Cameron im Vorfeld auch mit den Vorsitzenden der großen Fraktionen gesprochen.
Dennoch muss er den Briten einen ungedeckten Scheck präsentieren: Erst wenn sie im Referendum für einen Verbleib in der EU gestimmt haben, wird die Gesetzesmaschine in Gang gesetzt. Wenig wahrscheinlich ist, dass sich sozialdemokratische Abgeordnete oder Osteuropäer aus anderen Parteien an Gipfelbeschlüsse gebunden fühlen, die sie als unsozial empfinden. Diesen Umstand werden die EU-Gegner vor dem Referendum zu ihren Gunsten nutzen. Sie werden sagen, dass die Zugeständnisse des Brüsseler FebruarGipfels nichts wert sind, weil das EUParlament sie wieder kassieren kann.