Schwäbische Zeitung (Biberach)
EU-Gipfel berät heute über Flüchtlinge
Merkel dämpft Erwartungen – Theo Waigel im Interview mit der „Schwäbischen Zeitung“
BERLIN/RAVENSBURG - Bundeskanzlerin Angela Merkel hat kurz vor dem EU-Gipfel für ihren Kurs in der Flüchtlingspolitik geworben. Sie dämpfte jedoch die Hoffnung auf europäische Verteilungsschlüssel.
Vor dem Hintergrund, dass es bisher noch nicht einmal möglich war, die vereinbarten 160 000 Flüchtlinge zu verteilen, mache man sich mit der Frage von Kontingenten lächerlich, so Merkel bei ihrer Rede im Bundestag am Mittwoch. Sie setze auf die Bekämpfung der Fluchtursachen und den Schutz der Außengrenzen. Hilfe bekam sie von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker. „Die Geschichte wird Angela Merkel recht geben“, sagte Juncker in einem Interview der „Bild“-Zeitung.
In Brüssel wird heute erst die Frage des Brexit auf der Tagesordnung stehen, der britischen Drohung, die EU zu verlassen. Bundeskanzlerin Merkel nannte das Angebot des EURatspräsidenten Donald Tusk an die Briten eine gute Verhandlungsgrundlage. Sie zeigte Verständnis für die britische Forderung, Fehlanreize in den Sozialsystemen zu beseitigen. „Es ist selbstverständlich, dass jeder Mitgliedsstaat sein Sozialsystem schützen kann“, so Merkel.
Die Politiker rechnen mit einer langen Nacht in Brüssel. Großbritanniens Premier David Cameron hat bereits angekündigt, dass er drei Hemden mit nach Brüssel nehmen werde. Das am meisten beachtete Thema beim Gipfel, der bis zum Freitag geplant ist, wird die Frage nach einer solidarischen Verteilung von Flüchtlingen unter den EU-Mitgliedsländern sein.
Der frühere Bundesfinanzminis- ter Theo Waigel erklärte in einem Exklusivinterview mit der „Schwäbischen Zeitung“, wenn die Verteilung nicht gelinge, müsse den osteuropäischen Partnerstaaten deutlich gemacht werden, welche weitreichenden Folgen geschlossene Grenzen für Europa hätten. Der CSU-Politiker stellte sich hinter die Bundeskanzlerin und äußerte Verärgerung über die osteuropäischen Regierungen, die unendlich von der EU profitiert hätten. Aber Europa werde auch diese Krise überstehen, sagte Waigel, der vielen als „Vater des Euro“gilt.
RAVENSBURG - Der frühere Bundesfinanzminister und CSU-Politiker Theo Waigel gilt als Vater des Euros und als ein glühender Verfechter der europäischen Idee. Im Gespräch mit Christoph Plate und Markus Riedl verteidigt der 76-Jährige vor dem heutigen EU-Gipfel den europäischen Gedanken. Krisen habe Europa schon viele durchlebt.
Vor einem Jahr glaubten wir noch den Euro in Gefahr, ist jetzt vielleicht gar Europa gefährdet?
Weder waren damals der Euro oder Europa in Gefahr, noch sind sie es heute. Wir sind ohne Frage in einer ernsten Krise. Ich bin überzeugt, dass alle europäischen Staaten aus den letzten 100 Jahren so viel gelernt haben, dass sie das Projekt Europa nicht mehr zur Disposition stellen. Vor zwei Jahren haben wir aus Anlass des Jubiläums viel über den Ersten Weltkrieg nachgedacht und darüber gelesen, wie es zu diesem Krieg kam: Da muss jedem klar sein, dass in Europa mehr auf dem Spiel steht als irgendeine politische Konstruktion.
Hört man dem polnischen Präsidenten zu, Staatsoberhaupt des wichtigsten osteuropäischen Landes, kann man den Eindruck gewinnen, dass Europa eigentlich nicht so wichtig sei.
Das ist enttäuschend und auch empörend. Diese Länder müssten mehr als andere wissen, was Europa für sie bedeutet. Ohne die Strahlkraft Europa wären sie nicht in die Unabhängigkeit gekommen. Diese Länder wären allein, ohne EU und Nato, nicht in der Lage, gegenüber dem Druck von Russland zu bestehen.
Sind die Länder der VisegradGruppe, Polen, Slowakei, Tschechien, Ungarn, gegenüber den Altmitgliedern der EU undankbar?
Ja, das könnte man sagen. Aber das Wort Dankbarkeit darf man in der Politik nicht erwarten, meistens ja nicht mal in der eigenen Familie.
Ertappen Sie sich als großer Europäer manchmal bei dem Gedanken, dass die EU-Osterweiterung vielleicht überhastet war?
Nein, keine Sekunde. Sie war notwendig und es war richtig, die Chance nach 1990 zu ergreifen. Das war nur möglich, weil Jelzin sich an das gehalten hat, was Gorbatschow vereinbart hat. Unter Putin wäre das wahrscheinlich nicht möglich gewesen. Mein Ärger über die Herrschaften, die im Moment in Osteuropa demokratisch regieren, ist immer noch gemäßigter als die Angst, die ich vor denen hatte, die dort vor 40 Jahren an der Macht waren.
Gerade hat die Kanzlerin vor dem EU-Gipfel ihren europäisch-türkischen Lösungsansatz für die Flüchtlingskrise vorgestellt.
Eigentlich ist es natürlich der richtige Weg, gar keine Frage. Die Kanzlerin verdient da die volle Unterstützung. Wenn es nicht gelingt, die Außengrenzen zu schützen und die Türkei mit ins Boot zu holen, dann kommt ja die Welle immer stärker auf uns zu. Die daraus folgenden Probleme sind mit Sicherheit größer als der Aufwand, den es bedeutet, die Außengrenzen zu schützen.
Wann wäre der Zeitpunkt gekommen, etwa die Grenzen zu schließen? Merkel hat gesagt, nach dem EU-Gipfel könne man eine Zwischenbilanz ziehen.
Es gäbe durchaus beim EU-Gipfel die Möglichkeit, den anderen europäischen Ländern zu sagen, wenn ihr nicht mitmacht bei einer solidarischen Lösung der Flüchtlingskrise, können wir es nicht alleine machen und die Probleme werden für alle in Europa wesentlich größer. Wenn Plan A scheitert, wird es notwendig, rechtzeitig Plan B aufzurufen.
Und der wäre?
Plan B heißt, wenn alle an- deren nicht mitmachen, selbst Österreich, Schweden und unsere Nachbarn zu Grenzmaßnahmen greifen, bleibt auch uns nichts anderes übrig.
Dann können sich die Osteuropäer zurücklehnen und sagen, dann macht ihr es ebenso wie wir.
Ich bin überzeugt, dass Europa bei Restriktionen sehr schnell begreift, dass man einen anderen Weg ein- schlagen und zu gemeinsamen europäischen Lösungen kommen muss. Rückschläge wie im Moment sind nicht schön. Die haben wir aber immer gehabt in den letzten Jahrzehnten. Europa hat sich von jeder Krise wieder erholt und ist wieder nach vorne gegangen. Was mir im Moment in Europa fehlt, sind Politiker vom Format eines Jacques Delors oder eines Edward Heath in Großbritannien. Es fehlt an großen Ge-
stalten, die für Europa kämpfen.
Aber Angela Merkel wird an vielen Orten der Welt als Heldin gefeiert, weil sie nach europäischen Lösungen sucht.
..ja, das ist sie auch und ich unterstütze sie auch. Sie hat Großartiges geleistet, sie ist der Verantwortung Deutschlands, die in den vergangenen 150 Jahren noch nie so groß war wie jetzt, gerecht geworden. Ohne Deutschland hätte es ja die bemerkenswerte Bewältigung der Finanzkrise in Europa nicht gegeben.
Horst Seehofer machte den Osteuropäern gerne vor, wie man die Kanzlerin in dieser Frage vor den Kopf stoßen kann. Besorgt Sie das?
Ja. Die CSU hat bei wichtigen politischen Weichenstellungen die Bundeskanzlerin unterstützt. Jetzt gibt es Differenzen um die Frage, wie viel Zeit man hat. Und über die Frage, ob man, wenn der Plan A nicht funktioniert, den Plan B jetzt schon ins Fenster stellen sollte.
Wie sieht Ihr Europa, Herr Waigel, in einem Jahr aus?
Ein Jahr ist wenig. Die entscheidende Frage ist, was ist in den nächsten zehn Jahren. Da wird es in Europa verschiedene konzentrische Kreise geben: ein inneres Europa, das von der Währungsunion getragen wird. Eines, das aus der EU besteht. Ein weiterer Kreis, in dem die Beitrittskandidaten sind. Und noch einer von Ländern, mit denen wir Assoziierungsabkommen unterhalten. Es wird ein flexibles, sehr lebendiges und atmendes Europa sein, mit einem Kern, aber mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Ich hoffe auf eine Zivilgesellschaft und auf eine junge Generation, die so vernetzt ist in ganz Europa, dass sie auch kämpferisch dafür eintritt. Gerade komme ich von einer Diskussion mit 200 oder 300 Mittelschülern, mit denen habe ich über diese Dinge so gut diskutieren können, wie man es im Moment mit der älteren Generation leider nicht kann.