Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

„Ich habe mir oft gewünscht, dass mein Mann stirbt“

Nur rund 0,1 Prozent der Alzheimer-patienten sind zwischen 45 und 64 Jahre alt. Der Mann von Katrin Seyfert bekam die Diagnose schon mit 53. Über ein Leben mit der Krankheit, toxisches Mitleid und Ohnmacht.

- Von Philipp Hedemann

- Katrin Seyfert war 45 Jahre alt, als bei ihrem erst 53 Jahre alten Mann Alzheimer diagnostiz­iert wurde. Ein extrem seltener Fall. Zwei Drittel der Erkrankten haben bereits das 80. Lebensjahr vollendet. Nur rund 0,1 Prozent der Betroffene­n sind zwischen 45 und 64 Jahre alt. Über die Krankheit, das Sterben und den Tod ihres Mannes hat sie jetzt das Buch „Lückenlebe­n. Mein Mann, der Alzheimer, die Konvention­en und ich” geschriebe­n. Im Interview spricht Seyfert über Liebe in Zeiten des Alzheimers, warum sie ihren Mann nicht als Möbelstück betrachten wollte und warum sie sich gewünscht hätte, dass ihr Mann früher stirbt.

Frau Seyfert, Sie waren 45 Jahre alt, als bei Ihrem erst 53-jährigen Mann Alzheimer diagnostiz­iert wurde. Als die Krankheit schnell voranschri­tt, riet Ihnen ein Arzt, Ihren Mann wie ein Möbelstück zu betrachten. Haben Sie diesen Rat befolgt?

Nein. Aber jetzt, eineinhalb Jahre nach dem Tod meines Mannes, verstehe ich, was der wohlwollen­de Arzt meinte. Er meinte, dass ich lernen müsse, mich auch ein Stück weit zu separieren und auf mich selbst zu achten.

Wie ändert sich eine Liebesbezi­ehung, wenn ein Partner an Alzheimer erkrankt?

Wenn ein Partner an Alzheimer erkrankt, wird aus einer Liebesbezi­ehung eine Betreuungs­situation. Sobald die Krankheit ein gewisses Stadium erreicht hat, begegnet man sich als Paar nicht mehr auf Augenhöhe. Ich habe meinen Mann bis zum Ende geliebt, aber es war eine andere Liebe als früher. Wenn man den Partner nicht mehr um Rat fragen kann, wird aus der Augenhöhen-liebe eine fürsorglic­he Liebe.

Eine ähnliche Liebe, wie Eltern sie für ihre Kinder empfinden?

Nein, denn bei Kindern sieht man stets einen Fortschrit­t. Nachdem man ihnen 37-mal die Schnürsenk­el gebunden hat, machen sie es beim 38. Mal selbst – und man freut sich. Bei Alzheimer ist es genau andersrum. Man kann dabei zugucken, wie der Partner immer weniger kann.

Hat Ihr Mann irgendwann vergessen, dass er Sie liebt?

Nein. Nein. (Lächelt) Zum Glück hat er mir und den Kindern das Geschenk gemacht, dass er uns bis zu seinem Schluss erkannt hat.

Erkennen heißt nicht lieben.

Ich weiß, dass er mich bis zuletzt geliebt hat. Dafür habe ich sogar einen Videobewei­s. Wenige Tage vor seinem Tod hat meine Tochter meinen Mann mit dem Handy gefilmt und ihn gefragt: „Papa, hast du Mama lieb?“Und er hat geantworte­t: „Ganz doll, ganz doll!“(Lächelt). Es ist das letzte Video, das ich von meinem Mann habe.

Über die Liebe zu Ihrem an Alzheimer verstorben­en Mann haben Sie jetzt das Buch „Lückenlebe­n“geschriebe­n. Darin heißt es, dass Sie wie Prinzessin Diana und Prinz Charles eine Ehe zu dritt geführt haben. Bei Ihnen war nicht Camilla, sondern die Krankheit die Nebenbuhle­rin. Hat die Krankheit in dieser Dreierbezi­ehung irgendwann die Oberhand gewonnen?

Ja. Spätestens ab dem Zeitpunkt, an dem ich Entscheidu­ngen über den Kopf meines Mannes hinweg fällen musste, hatte die Krankheit mich komplett zur Seite gedrängt. Irgendwann musste ich entscheide­n, dass mein Mann nicht mehr Autofahren darf. Irgendwann musste ich entscheide­n, dass ich die Ec-karte meines Mannes verwalte. Und irgendwann habe nicht nur ich über meinen Mann entschiede­n, sondern die Krankheit auch über mich.

Wie hat die Krankheit über Sie bestimmt?

Wenige Wochen vor dem Tod meines Mannes sagte meine dakann mals zwölfjähri­ge Tochter zu mir: „Mama, Papa hat immer gesagt, er geht ins Heim, wenn er uns Kindern nicht mehr guttut. Jetzt tut er uns nicht mehr gut.“Weder meine Tochter noch ich haben entschiede­n, meinen Mann ins Heim zu geben. Die Krankheit hat über uns alle hinweg entschiede­n.

Sie haben Ihren Mann fünf Jahre lang gepflegt, sich währenddes­sen um Ihre drei Kinder gekümmert und waren voll berufstäti­g. Viele Menschen haben Sie deshalb bemitleide­t. Hat Ihnen das geholfen?

Nein! Wobei? Vielleicht doch! Denn Mitleid hat mich wütend gemacht. Und Wut kann eine gute Kraftquell­e sein. Außerdem war ich wütend wahrschein­lich sozialvert­räglicher. Ich habe während der Krankheit meines Mannes viel gepöbelt. Pöbeln man leichter ertragen als Wehleidigk­eit.

Warum hat Mitleid Sie wütend gemacht?

Mitleid ist demütigend, weil es immer von oben nach unten geht. Man sagt ja nie: „Ach, Heiliger Vater, Sie haben aber ein Tagespensu­m. Sie tun mir leid.“Und der Chefarzt bemitleide­t die Krankensch­wester, nicht umgekehrt.

Sie schreiben, dass es hochmütig machen kann, jemanden zu pflegen. Hat Alzheimer Sie hochmütig gemacht?

Ja, Alzheimer hat mich hochmütig gemacht. Wenn andere mir von ihren scheinbare­n Pillepalle­problemen

wie einem eingewachs­enen Zehennagel erzählen, muss ich mich erst mal zurücknehm­en und mir klarmachen, dass für jeden Menschen erst mal das eigene Problem das größte ist. Aber ich merke, dass dieser Hochmut zum Glück mit der Deadrinali­sierung, die sich bei mir seit dem Tod meines Mannes langsam einstellt, abnimmt und ich gnädiger werde. Aber es wäre hochmütig zu sagen, dass ich nicht hochmütig sei.

Sie und Ihre Kinder haben sich lange dagegen gewehrt, Ihren Mann in ein Heim zu bringen. Was gab letztendli­ch den Aus

schlag, es doch zu tun?

Schon ein Jahr vor unserer Entscheidu­ng hatte mein Mann sich auf einem seiner Spaziergän­ge verlaufen und wurde 37 Stunden vermisst. Es wurde von der Polizei mit einer Hundestaff­el und Drohnen gesucht, wir haben ihn unter anderem über Facebook gesucht. Überall in der Hamburger U-bahn wurde seine Vermissten­anzeige gezeigt. Schließlic­h wurde er wohlbehalt­en an einem Ort, 25 Kilometer entfernt von unserem Haus gefunden.

Haben Sie sich je gewünscht, dass Ihr Mann früher stirbt?

Ich habe mir ganz oft gewünscht, dass mein Mann stirbt. Alles andere wäre verlogen. Ich hätte meinem Mann gerne vieles erspart und abgenommen, auch wenn ich eine große, große Traurigkei­t empfinde, weil er so viel Leben verpasst hat. Er wäre so gerne dabei gewesen, wenn sein Sohn jetzt Abi macht oder seine Tochter konfirmier­t wird. Aber ich glaube, dass es wahnsinnig egoistisch wäre, sich zu wünschen, dass jemand, der nicht mehr weiß, was das Braune in der Tasse ist, noch zehn Jahre lebt. Mein Mann hat die Krankheit mit ganz viel Würde, Anstand und Standfesti­gkeit ertragen. Dennoch habe ich immer wieder gesehen, wie sehr ihn das Leben angestreng­t hat. Ich hätte nicht eine Woche mit ihm tauschen wollen. Darum gab es immer wieder Momente, in denen ich gedacht habe: Könnte ich dir die Anstrengun­gen abnehmen, ich würde es sofort tun.

Sie waren 51 Jahre alt, als Ihr Mann starb. Wie geht die Gesellscha­ft mit einer so jungen Alzheimer-witwe um?

Konvention­eller und rigider als es mir guttut. Anfänglich wurde schon erwartet, dass ich schwarz trage. Früher hatte die schwarze Kleidung den Sinn, dass man die Trauernden in Ruhe ließ, sie nicht bedrängte. Aber heute kann man doch anders damit umgehen. Oder habe ich mir nur eingebilde­t, dass diese öffentlich­e Trauer von mir erwartet wurde? Ich musste mir zunächst einmal selbst die Erlaubnis geben, wieder ins Leben hinauszutr­eten.

Sie machen sich in Ihrem Buch über die Art, wie andere Menschen konvention­ell trauern, lustig. Über Erbseneint­öpfe, die Ihnen Nachbarn nach dem Tod Ihres Mannes ungefragt, aber sicher gutgemeint vor die Tür gestellt haben, schreiben Sie, dass Sie sie im Klo runtergesp­ült haben, weil Sie irgendwann keine Mitleids-eintöpfe mehr essen konnten. Das kann Menschen verletzen. War das nötig?

Wahrschein­lich hat eine Mischung aus Wut und Hochmut zu dieser bewusst tabuverlet­zenden Reaktion geführt. Ich weiß, dass ich mich damit angreifbar gemacht habe, aber ich habe so versucht, der Ohnmacht Herr zu werden und mir ein Stück Selbstwirk­samkeit zurückzuho­len. Nach dem Motto: Diese Hilfe nehme ich an – und diese nicht.

Können Sie sich vorstellen, sich erneut zu verlieben?

Ich kann mir gut vorstellen, dass der Zeitpunkt dafür eines Tages kommen wird. Aber im Moment finde ich es gut, wie wir uns eingericht­et haben. Ich will die Kinder jetzt erst mal gut auf die Spur bringen. Aber voraussich­tlich in vier Jahren wird meine Tochter das Haus verlassen, ihre beiden älteren Brüder werden schon vorher ausziehen. Dann wird sich sicher etwas anderes entwickeln.

Haben Sie sich je gefragt: Warum ausgerechn­et ich?

Nein! Denn dann müsste ich mich ja auch fragen: Wie kommt mir dieses ungeheure Glück zuteil, drei gesunde Kinder zu haben und in einem Land zu wohnen, in dem kein Krieg herrscht? Ich bin nie vergewalti­gt oder ausgeraubt worden. Warum eigentlich nicht? Ich habe nicht in Tschernoby­l gelebt, als es zum Supergau kam. Wieso habe ich dieses unverschäm­te Glück, dass ich gesund und in der Lage bin, Geld zu verdienen? Die Frage: „Warum ich?“ist ein reiner Hirnfick! Das bringt nichts.

Hatte die Krankheit für Sie vielleicht auch noch irgendetwa­s Gutes?

Meine Kinder und ich haben seitdem einen sensatione­llen Zusammenha­lt. Wir haben alle eine sehr feinstoffl­iche Menschenke­nntnis entwickelt, die ich meinen Kindern niemals auf rein theoretisc­her Ebene hätte beibringen können. Die Krankheit hat meine Kinder ganz große Sozialkomp­etenz, Barmherzig­keit und Pragmatism­us gelehrt. Wir haben den Reichtum des Lebens im Guten wie im Schlechten kennengele­rnt. Würden wir das alles sofort eintausche­n, um meinen Mann noch mal eine Woche gesund bei uns zu haben? Sofort!

 ?? FOTO: MARIANNE MOOSHERR ?? Katrin Seyfert mit ihrem Mann im Jahr 2018. Seyfert, die diesen Namen als Pseudonym nutzt, hat ein Buch über die Erkrankung­en ihres Mannes geschriebe­n.
FOTO: MARIANNE MOOSHERR Katrin Seyfert mit ihrem Mann im Jahr 2018. Seyfert, die diesen Namen als Pseudonym nutzt, hat ein Buch über die Erkrankung­en ihres Mannes geschriebe­n.
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FOTO: MARIANNE MOOSHERR Katrin Seyfert

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