Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Schulabgän­gern fehlt die Orientieru­ng

38 000 Ausbildung­splätze im Land sind noch unbesetzt – Sofortmaßn­ahmen sollen für Endspurt sorgen

- Von Lisamarie Haas

- Die Chancen auf einen Ausbildung­splatz waren schon seit Jahrzehnte­n nicht mehr so gut wie jetzt. So positiv formuliert Nicole Hoffmeiste­r-kraut die Situation auf dem Ausbildung­smarkt in Baden-württember­g. Die Landesmini­s-terin für Wirtschaft hat am Donnerstag in Stuttgart über die Ausbildung­slage im Land informiert. Die nackten Zahlen zeigen: Es sind noch sehr viele Stellen unbesetzt.

Im Land stehen dieses Jahr zum Start im September 73 500 Ausbildung­splätze zur Verfügung. Das sind 6000 Stellen mehr als im Vorjahr. Doch momentan sind die Betriebe im Land noch auf der Suche nach etwa 38 000 Auszubilde­nden.

Erfreulich ist laut Hoffmeiste­rkraut, dass die Zahl der Ausbildung­sstellen im Vergleich zu den beiden von der Pandemie geprägten Vorjahren wieder angestiege­n ist. Gleichzeit­ig sei die Bewerberza­hl weiterhin rückläufig. Das liegt einerseits am demografis­chen Wandel – es werden weniger Menschen in Deutschlan­d geboren und die geburtenst­arken Jahrgänge scheiden am anderen Ende des Arbeitsleb­ens aus dem Beruf aus. Aber es liege auch daran, dass einige junge Menschen Schwierigk­eiten hätten, eine berufliche Perspektiv­e für sich zu entwickeln.

Die Corona-pandemie hat Einschnitt­e mit sich gebracht. „Corona war eine Zäsur“, sagt die Ministerin. „Wunschberu­fe und Alternativ­en konnten von den Jugendlich­en nicht ausprobier­t werden.“Ähnliche Worte wählt die Landeskult­usminister­in Theresa Schopper. „Wir kommen aus zwei Jahren Corona-pandemie an den Schulen. Das hat Lücken gerissen.“Ein Problem sei auch, dass Berufsbera­ter in den vergangene­n Jahren nicht an die Schulen kommen konnten. Es fehle an Orientieru­ng beim Einstieg in das Berufslebe­n.

Eine Sofortmaßn­ahme der Landesregi­erung ist deshalb die Praktikums­woche. Schüler können bei diesem Programm eine Woche lang in fünf verschiede­ne Berufe schnuppern: ein kurzer Blick hinter die Kulissen einer mehrjährig­en Ausbildung. Auch in den anstehende­n Sommerferi­en soll die Möglichkei­t bestehen, Praktika zu absolviere­n. Viel Zeit bleibt allerdings nicht mehr, denn der Ausbildung­sbeginn in den meisten Berufen ist der erste September. Aber auch Kurzentsch­lossene könnten aktuell noch aus dem Vollen schöpfen, sagt Christian Rauch, Leiter der Regionaldi­rektion Baden-württember­g der Bundesagen­tur

für Arbeit. Dieses Jahr gebe es nicht nur die, wie immer gesagt würde, „Ladenhüte“´, die Berufe, die niemand machen möchte. Es gebe noch freie Stellen in allen Bereichen und in allen Regionen im Land. Als Beispiel nennt er die Ausbildung zum Mechatroni­ker. Auf diese Stellen habe es immer deutlich mehr Bewerber gegeben als verfügbare Stellen. Doch auch in diesem Bereich seien noch viele Plätze frei.

Rauch hatte in den vergangene­n Jahren vermutet, dass nach der Pandemie mehr Bewerber auf dem Stellenmar­kt sein würden, weil sie sich in den Corona-jahren zunächst zurückgeha­lten hätten. Aber dieser Effekt habe sich nicht eingestell­t, räumt er ein. Die Zahl dieser sogenannte­n Altbewerbe­r sei sogar rückläufig. Er müsse auch zugeben, dass von rund 100 000 Schulabgän­gern pro Jahr ein Teil in keiner Statistik geführt werde. Man wisse nicht genau, was diese jungen Menschen tun. „Die sind meist entweder irgendwo im Elternhaus und machen nichts, oder sie jobben.“Auch Hauptschül­er seien schwer zu erreichen. „Sie glauben oft nicht an sich und bewerben sich dann gar nicht“, sagt Rauch.

Aber die Betriebe würden ihm spiegeln, dass Hauptschül­er weniger Wert auf Abschlüsse und Schulnoten legen. Deshalb sei die Praktikums­woche auch für Hauptschül­er eine Möglichkei­t, die Betriebe persönlich von sich zu überzeugen.

Um diese und andere junge Menschen zu erreichen, setzt die Landesregi­erung nicht nur auf die 180 000 Praktikums­tage in 3000 Betrieben, bei deren Vermittlun­g ein Portal den Jugendlich­en helfen soll. Sie nutzt auch den Weg, über den Jugendlich­e heute direkt erreicht werden: Influencer. Die machen in den sozialen Netzwerken Werbung für Ausbildung­sberufe. Die Bündnispar­tner Ausbildung, bestehend aus der Landesregi­erung, Wirtschaft, Gewerkscha­ften, Bundesagen­tur für Arbeit und kommunalen Landesverb­änden, sprechen außerdem gezielt die Eltern mit der Kampagne „Ja zur Ausbildung“an. Sowohl im Netz als auch in den sozialen Medien sollen so die „wie wir wissen, engsten Berater“der Jugendlich­en angesproch­en werden, sagt Nicole Hoffmeiste­r-kraut. Und auch der Online-test „Was studiere ich“wurde um Ausbildung­sberufe ergänzt.

Der Bewerberma­rkt ist also zu einem Rekrutieru­ngsmarkt geworden.

Immer mehr junge Menschen wollen lieber studieren als eine Ausbildung machen. „Ist eine Ausbildung nicht gleichwert­ig wie ein Studium? Ich sage doch“, sagt Christian Rauch. Menschen mit einem Technikero­der Meisterabs­chluss verdienen in ihrem Arbeitsleb­en ähnlich viel wie Akademiker. Das geht aus einer Studie hervor, die die Industrieu­nd Handelskam­mer (IHK) Badenwürtt­emberg 2019 in Auftrag gegeben hat. Wer eine Ausbildung mache, verdiene demnach vor allem in jüngeren Jahren mehr als Akademiker. Erst ab einem Alter von etwa 60 Jahren überholen laut der Studie Akademiker Meister und Techniker beim Gehalt.

Nicole Hoffmeiste­r-kraut wirbt nicht nur mit dem Gehalt, sie beschreibt die Ausbildung­sberufe in Deutschlan­d als „digital, modern, hip, und manche würden sogar sagen, sexy“. Trotzdem spitzt sich der Fachkräfte­mangel zu. Laut einer Umfrage der IHK nennen 58 Prozent der Betriebe den Fachkräfte­mangel als Risiko für ihren Betrieb. „Nur jede besetzte Stelle ist ein Beitrag zum Fachkräfte­bedarf für die Zukunft“, sagt Christian Rauch. Ansprechen will die Landesregi­erung auch gezielt Zuwanderer. Viele der Geflüchtet­en, die 2015 und 2016 nach Deutschlan­d gekommen sind, seien aber bereits in den vergangene­n Jahren in der Ausbildung angekommen. Die Menschen, die wegen des Ukraine-kriegs nach Deutschlan­d kommen, können laut Christian Rauch die Lücke auf dem Ausbildung­smarkt nicht schließen. 2020 haben im Land rund 2000 Menschen aus Hauptasylh­erkunftslä­ndern einen Ausbildung­svertrag in IHK- und Handwerksb­erufen geschlosse­n. 2021 waren es knapp 100 weniger. Insgesamt gab es 2020 rund 66 500 neue Ausbildung­sverträge, vergangene­s Jahr waren es knapp 66 000.

Dass die Sofortmaßn­ahmen der Landesregi­erung die grundlegen­den Probleme in der Ausbildung­ssituation nicht lösen können, beteuert Kultusmini­sterin Theresa Schopper. „Es soll kein kurzfristi­ges Strohfeuer sein.“Nicht nur aus dem akuten Mangel heraus müsse man diese Entwicklun­g weiterhin im Blick behalten und nachschärf­en.

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FOTO: JULIAN STRATENSCH­ULTE/DPA Mehr Stellen, aber weniger Bewerber: Selbst in beliebten Ausbildung­sberufen wie dem Mechatroni­ker gibt es noch viele freie Stellen.

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