Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Die unterschätzte Gefahr
Warum an Übergängen immer wieder Unfälle passieren und was die Bahn dagegen tut
- Innerhalb weniger Wochen sterben zwischen Bodensee und Oberschwaben zwei Menschen, als ein Zug sie am Bahnübergang erfasst. Zuerst einen Rollstuhlfahrer am 21. Juni in Meckenbeuren, dann am 2. Juli in Weingarten eine 81-jährige Radfahrerin. Zwei derartige Unglücke in so kurzer Zeit werfen Fragen auf. Dabei ist die Anzahl von Unfällen an Bahnübergängen in den vergangenen 20 Jahren gesunken.
Für 2020 verzeichnet der Jahresbericht der Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung (BEU) 121 Unfälle an Bahnübergängen. Bei der BEU müssen alle „Gefährlichen Ereignisse“im Schienenverkehr gemeldet werden. Diese werden nach ihrer Schwere klassifiziert. Zu schweren Unfällen zählen solche, bei denen es mindestens einen Toten oder fünf Schwerverletzte gab oder zwei Millionen Euro Sachschaden entstanden sind. Wenn jemand sehr wahrscheinlich Suizid begangen hat, wird das nicht in einer dieser Unfallstatistiken erfasst.
Wird ein Unfall als schwer klassifiziert, muss die BEU untersuchen, ob und wie die Sicherheit am jeweiligen Unfallort verbessert werden kann. Meist kommt es jedoch nicht zu einer solchen Untersuchung, denn: Schuld sei oft der Verkehrsteilnehmer selbst, so die BEU. Von den 121 Unfällen an Bahnübergängen im Jahr 2020 sind beispielsweise nur vier genauer untersucht worden.
Das deckt sich mit Statistiken des Deutschen Automobilclubs (ADAC). Demnach passieren über 95 Prozent der Unfälle an Bahnübergängen, weil jemand gegen die Straßenverkehrsordnung verstößt – und nicht wegen technischer Störungen oder fehlerhafter Sicherungsmaßnahmen. Oft seien Autofahrer in Unfälle verwickelt, gefolgt von Fußgängern, Radfahrern und Lkw. „Das liegt hauptsächlich daran, dass sich bei den meisten Übergängen die Bahngleise mit einer Autostraße kreuzen“, erklärt Holger Bach, Abteilungsleiter Verkehr und Umwelt beim ADAC Württemberg.
Die Deutsche Bahn (DB) betrieb nach eigenen Angaben im Jahr 2018 in Deutschland 16 391 Bahnübergänge. Davon sind 62 Prozent technisch gesichert, verfügen also über Schranken, Lichtzeichen oder Blinklichter. Das heißt im Umkehrschluss: Bei 38 Prozent der Bahnübergänge ist das nicht der Fall. Der ADAC sieht besonders bei diesen Übergängen potenzielle Unfallschwerpunkte. „Eine geschlossene Schranke minimiert zumindest das Risiko, dass man einen Zug übersieht, während man über den Bahnübergang fährt“, sagt Bach. Der Bahnübergang in Meckenbeuren, an dem der Rollstuhlfahrer im Juni zu Tode kam, ist mit einer Halbschranke gesichert. Der Übergang in Weingarten war bereits vor dem Unfall dauerhaft mit Bauzäunen komplett gesperrt. Dennoch hat die Radfahrerin die Gleise überquert.
Zwischen 2010 und 2021 kam es im Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums Ravensburg, zu dem auch Meckenbeuren und Weingarten gehören, zu neun tödlichen Bahnunfällen. Allein 2022 waren es mit den beiden kürzlichen bereits drei. Doch diese seien nicht abschließend bearbeitet und fallen somit auch noch nicht in die Statistik, erklärt Pressesprecherin Sarah König vom Polizeipräsidium Ravensburg. Die neun Unfälle zuvor seien alle an unterschiedlichen Bahnübergängen passiert. „Wir haben somit keine Häufungsstelle an einem Bahnübergang“, so König. In vier der Fälle geht die Polizei von einem Übersehen der Haltzeichen und Absperrungen aus, in weiteren vier davon, dass diese vorsätzlich missachtet wurden. Im neunten Fall wollte eine Autofahrerin auf dem Bahnübergang wenden, als die Schranken heruntergingen.
Zu den Hauptursachen für solche Unfälle zählen, neben dem Passieren von geschlossenen Halb- oder Vollschranken, auch das Missachten des Vorrangs des Schienenverkehrs, etwa aus Unaufmerksamkeit, Leichtsinn oder Unkenntnis, wie Holger Bach vom ADAC ausführt. „Vielen Verkehrsteilnehmern ist leider die genaue Bedeutung des Andreaskreuzes unbekannt. Es kennzeichnet nicht einfach den Bahnübergang, es beinhaltet eine klare Anweisung: Der Schienenverkehr hat Vorrang.“
Um auf die Gefahren rund um Bahnübergänge aufmerksam zu machen, gibt es seit 2002 die Gemeinschaftsaktion „Sicher drüber“, an der sich neben dem ADAC und der DB unter anderem auch die Bundespolizei beteiligt. Seit dem Start der Informationskampagne hat sich die Anzahl der Unfälle mehr als halbiert: von 294 im Jahr 2002 auf etwa 140 im vergangenen Jahr, so eine vorläufige Zahl für 2021 von der BEU. 2022 sind der BEU bislang 72 Bahnübergangsunfälle gemeldet worden.
Vielen Menschen sei nicht bewusst, „wie leise und schnell Züge sind“, erläutert Daniela Schmidt von der Pressestelle der Bundespolizei in Konstanz, zuständig für den Kreis Ravensburg und den Bodenseekreis, wo vor Kurzem die beiden Menschen tödlich verunglückt sind. Die Leute könnten oft nicht einschätzen, ob die Zeit noch reicht, um über das Bahngleis zu kommen, so Schmidt.
Gefährlich wird es häufig auch, weil Züge nicht so schnell abbremsen können wie Autos. Ein Personenzug mit einem Gewicht von circa 1000 Tonnen benötigt bei einer Geschwindigkeit von rund 100 Kilometern pro Stunde einen Bremsweg von etwa 1000 Metern. Zum Vergleich: Ein Ford Fiesta, der mit 100 Kilometern pro Stunde auf trockener Fahrbahn fährt, bremst innerhalb von 34 Metern, heißt es beim ADAC. Alle Bahnübergänge werden regelmäßig auf ihre Funktionsfähigkeit geprüft, erklärt eine Sprecherin der DB auf Anfrage. Bahnübergänge ohne technische Sicherung werden dabei dreimal, Anlagen mit technischer Sicherung zweimal jährlich von Experten überprüft. Technische Anlagen hätten zudem eine selbstständige Fehlererkennung.
Zum Hergang der Unfälle in Weingarten und Meckenbeuren laufen derzeit Ermittlungen, sodass sich die Bahn noch nicht dazu äußern möchte. In beiden Fällen wird aktuell von einem Unfall ausgegangen. Die Bahn appelliert daher an die Verkehrsteilnehmer, aufmerksam zu sein, die Verkehrsregeln zu beachten und daran zu denken: Ein Zug kann nicht ausweichen und kaum abbremsen.