Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
61 Jahre nach Max Bolkart
Der Oberstdorfer Karl Geiger gewinnt das Auftaktspringen der 69. Vierschanzentournee in Oberstdorf
OBERSTDORF - Kurz schaute Stefan Horngacher, ehe es ernst wurde, gen Himmel. „Die Verhältnisse“, sagte der Skisprung-Bundestrainer dann, „sind super heut’. Heut’ kommt’s wirklich auf den Sprung an. Heut’ liegt’s am Skispringer.“Und, war man nach Duchgang eins geneigt zu ergänzen, am Schattenberg-typischen, tückischen Rückenwind. Je später der Abend, desto mehr bremst der gemeinhin (mit seltenen Ausnahmen). Gesucht also beim Auftaktspringen der 69. Vierschanzentournee in Oberstdorf: ein rückenwindresistenter Luftkünstler, einer zudem, bei dem das Paket Absprung/Übergang/Flug ideal passt. Gefunden: Karl Geiger.
Der 27-Jährige landete von seiner Heimschanze nach 127,0 und 136,5 Metern (291,1 Punkte), hielt Kamil Stoch (Polen/125,0+132,5/288,3) und Marius Lindvik (Norwegen/126,5+135,5/285,2) auf Distanz – und sorgte für den ersten Oberstdorfer Sieg in Oberstdorf seit Max Bolkart anno 1959. Sein spontaner Kommentar: „Vorgestern bin ich rausgekommen aus der Corona-Quarantäne. Heute sind mir zwei gute Sprünge gelungen. Ich weiß selber nicht, wie das ging: jetzt einfach beim Wettkampf draufhalten, genießen und angreifen. Das hat alles super gepasst.“
Hat es – und damit ging es Karl Geiger anders als manch anderem Großen der Szene. Die Liste derer, die nach einem Wettbewerbssprung nicht mehr per Schrägaufzug zum zweiten nach oben fahren durften, begann bei Simon Amman, umfasste Bor Pavlovcic,
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Johann Andre Forfang, Robert Johansson, Maciej Kot und Michael Hayböck. Aus deutscher Sicht unschön: Von zwölf gestarteten Springern schafften es gerade drei in den Finaldurchgang. Pius Paschke, Constantin Schmid und Martin Hamann scheiterten aus dem derzeitigen WeltcupSextett; beim Komplett-Aus der nationalen Gruppe gehörten auch Richard Freitag sowie die Nach-Kreuzbandriss-Rückkehrer Andreas Wellinger und David Siegel zu den Frustrierten. Severin Freund, Dritter im Bund der genesenen Langzeitverletzten, war als 25. nicht unglücklich – der Bundestrainer indes war bei Halbzeit nicht wirklich zufrieden. Karl Geiger attestierte er einen „goldenen Sprung“bei „schwierigen Bedingungen“, die Ausgeschiedenen aber hätten „viele, viele Meter verloren. Ein ziemlich ernüchternder erster Durchgang für uns.“
Der Stimmungsaufheller hieß Markus Eisenbichler. Im Probedurchgang waren seine 133,5 Meter die größte aller 62 Weiten, der erste Versuch misslang dann veritabel: bös verwehte 118,0 Meter, Rang 27 nur – und ein trotziges „Der war halt einfach nicht so gut, da bin ich ganz ehrlich. Das wird so hart bestraft“. Andererseits (das ist keine Ironie) nimmt so etwas auch Druck. Zu verlieren hatte der Gefühlsspringer
Eisenbichler jetzt nichts mehr, die Winde waren ihm wohlgesonnen. Stressfreies Fliegen war angesagt – und das kann der Mann vom TSV Siegsdorf wie kaum ein Zweiter. Seine 142,0 Meter – laut Selbstauskunft „der Hammer“– kratzten am Uralt-Schanzenrekord Sigurd Pettersens (143,5 Meter), brachten letztlich noch Platz fünf (!) – und Stefan Horngacher ins Schwärmen: „Vernudelt“habe Markus Eisenbichler seinen Erstling „ein wenig“, „im Zweiten aber einen nachg’legt, der war vom anderen Stern. Da hat er gezeigt, was in ihm steckt, was er in der Lage ist zu produzieren.“In Garmisch-Partenkirchen,
Innsbruck und Bischofshofen. Man darf gespannt sein. Denn, so der 29-Jährige selbst nach seiner fulminanten Luftfahrt ins Springerglück: „Ich bin jetzt in die Tournee gestartet.“
Ist Karl Geiger bereits mit Sprung Nr. 1. Vergessen war der Positiv-Test, war das Wissen um die Fallstricke auf vertrautem, dennoch so heiklem Terrain: Er, der tendenziell zu spät abspringt, und Oberstdorfs Hillsize-137Meter-Bakken, der genau das fördert – kein Thema. Karl Geigers Tunnel ist ein zuverlässiger Tunnel. Ein dichter Tunnel. „Augen zu und durch! Und einfach Vollgas geben!“
Nicht die schlechteste Idee offenbar. 61 Jahre nach Max Bolkart.
Auftaktspringen der Vierschanzentournee in Oberstdorf: 1. Geiger (Oberstdorf) 291,1 Punkte (127+ 136,5 m), 2. Stoch (Polen) 288,3 (125+132,5), 3. Lindvik 285,2 (126,5+135,5), 4. Granerud (beide Norwegen) 280,1 (122+131), 5. Eisenbichler (Siegsdorf) 274,3 (118+142), 6. Kraft (Österreich) 273,6 (126,5+125), 25. Freund (Rastbüchl) 249,5 (123,5+126), 33. Paschke (Kiefersfelden) 118,8 (116,5),
36. Schmid (Oberaudorf) 118,0 (117),
38. Siegel (Baiersbronn) 114,1 (118),
41. Freitag 113,0 (118,5), 43. Hamann (beide Aue) 112,4 (114),
46. Wellinger (Ruhpolding) 108,5 (115), 48. Baer (Gmund-Dürnbach) 108,0 (114,5), 53. Roth (Meßstetten) 99,5 (110), 57. Märkl (GarmischPartenkirchen) 94,5 (108).