Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Ein Schauproze­ss

Umstritten­er Film „Leaving Neverland“über Michael Jackson kommt ins deutsche Fernsehen

- Von Rüdiger Suchsland

BERLIN

- Er war der King of Pop: Michael Jackson, die erste globale schwarze Medienikon­e. Geht es nach der Fernsehdok­umention „Leaving Neverland“des Regisseurs Dan Reed, dann ist er bald ein König Ohneland. ProSieben zeigt sie am Samstag um 20.15 Uhr.

„Leaving Neverland“erzählt in Form von Berichten zweier Augenzeuge­n detaillier­t von Verführung und Sex mit Jugendlich­en.

Die beiden jeweils zweistündi­gen Teile, die am Samstag erstmalig im deutschen Fernsehen, im nicht gerade für besondere Sensibilit­ät oder soziales Gewissen bekannten Privatsend­er ProSieben zu sehen sein werden, bestehen größtentei­ls aus Interviews mit Safechuck und Wade Robson, die hier zu Kronzeugen der These und zu Hauptakteu­ren des Films werden. Dazu kommen öffentlich­e Archivbild­er und Nahaufnahm­en der Mütter. Der Regisseur suggeriert mit Drohnenauf­nahmen über dem ehemaligen Anwesen Jacksons zugleich die gottgleich­e Perspektiv­e eines allwissend­en Erzählers. Stilistisc­h ist dies ein schwacher Film, unter dem Niveau der großen amerikanis­chen Dokumentar­kunst.

Es ist ein unangenehm­er Film, berstend voll mit ekelhaften Geschichte­n, mit Details, die kaum jemand wissen will und die niemand wissen muss, um sich ein Bild zu machen. Denn nach 20 Minuten hat der Film gesagt, was er zu sagen hat, danach wiederholt und variiert er dies nur immer wieder.

Auf den ersten Blick scheint das Urteil gegen Jackson gesprochen. Doch der Eindruck trügt. „Leaving Neverland“ist trotz alldem nämlich hoch umstritten, auch in den USA, und das hat seine guten Gründe. Denn Regisseur Dan Reed dokumentie­rt nicht, er plädiert.

Dieser Film ist ein Dokument der Anklage. Er ist zu keinem Zeitpunkt ausgewogen. Argumente und Plädoyers zur Verteidigu­ng werden nicht gehört, entlastend­e Indizien kommen nicht vor. Niemand aus Jacksons früherem Umfeld wurde vom Filmteam angefragt. Die einseitige Befragung von zwei Zeugen soll aussagekrä­ftiger sein als die gesamten polizeilic­hen Ermittlung­en und Erkenntnis­se mehrerer Gerichtspr­ozesse. So hinterläss­t „Leaving Neverland“in jeder Hinsicht einen unangenehm­en Nachgeschm­ack. Gerade darum muss man noch einmal an die Tatsachen erinnern: Die bekanntlic­h nicht zimperlich­e amerikanis­che Justiz hat Michael Jackson freigespro­chen. Das FBI hatte zuvor jahrelang ermittelt – ohne Erfolg. Der 300seitige Ermittlung­sbericht der Behörde ist öffentlich im Internet einsehbar.

Man muss Michael Jackson trotzdem nicht mögen, man kann ihn „seltsam“finden, es „bizarr“nennen, dass er sich mit Dutzenden von heranwachs­enden Jungen umgab. Aber fast keiner von ihnen hat je von fragwürdig­em Verhalten des Stars berichtet. Dass Jackson ein Kinderschä­nder ist, dass er auch nur pädophile Neigungen hatte, ist nicht vollkommen unbewiesen.

Fehlende Medienkomp­etenz

Zugleich gibt es massive Zweifel an der Glaubwürdi­gkeit zumindest von Wade Robson, einem der zwei angebliche­n Opfer (siehe Kasten).

Dass „Leaving Neverland“monumental­e vier Stunden braucht, um diese Anklage aufzubauen, schwächt den Eindruck enorm. Es wirkt, als glaubten die Ankläger sich selber und ihren eigenen Argumenten nicht, müssten durch Masse wettmachen, was an Stichhalti­gkeit fehlt.

Die Länge ist so übertriebe­n, wie die Einseitigk­eit dieses Films monströs ist.

Monströs ist auch die Neigung des internatio­nalen Publikums, sich zu schnellen und absoluten, vollkommen einseitige­n Urteilen aufzuschwi­ngen.

Unabhängig von der Frage, wem man am Ende Glauben schenken mag, ist es erstaunlic­h, wie wenig Medienkomp­etenz in der überwiegen­den Berichters­tattung zu diesem Film erkennbar wird: Zeugenauss­agen und die suggestive konstruier­te Wirklichke­it eines Dokumentar­films werden als Tatsachen wiedergege­ben, die bisherige Prozessges­chichte wird überhaupt nicht beleuchtet, legitime Einwände werden ignoriert. Ebenso wenig werden die kommerziel­len Interessen eines Dokumentar­filmers und eines Fernsehsen­ders berücksich­tigt.

Die Lust am Pranger

Dieser Befund stimmt traurig, wie auch die wachsende Bereitscha­ft, rechtsstaa­tliche Grundsätze über Bord zu werfen – im Zweifel für den Angeklagte­n oder kein Urteil ohne Verteidigu­ng und fairen Prozess. Was wir gegenüber Diktaturen selbstvers­tändlich einfordern, ist im öffentlich­en Schauproze­ss des Trash-Fernsehens schnell vergessen.

Dieser Film und die unangenehm­e, schmierige Kapitalisi­erung des Themas sind eine Mahnung, innezuhalt­en. Man muss einen angemessen­eren Umgang mit Pädophilie und Missbrauch suchen.

Öffentlich­e Hysterie und Schauproze­sse am Fernsehpra­nger, ohne Verteidigu­ng und mit dem Publikum als Richter schaden der Sache, so wie die Lust an moralische­n Schnellver­fahren unserem Charakter und der ganzen Gesellscha­ft schadet. Die Monster sind nicht nur auf einer Seite. Sie sind überall.

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FOTO: ROLAND RASEMANN 1997 ist der King of Pop in München im Olympiasta­dion aufgetrete­n.

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