Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

„Brexit hat die Großsprech­er verstummen lassen“

SPD-Politiker Martin Schulz über Europa, Kanzlerin Merkel und sein ganz persönlich­es Theaterstü­ck

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BERLIN - Der SPD-Politiker Martin Schulz ist wütend auf die britischen Politiker. Er hält aber eine neue Verschiebu­ng der Brexit-Entscheidu­ng bis zum 22. Mai für sinnvoll, wenn dann eine gute Lösung gefunden wird. Sabine Lennartz und Mathias Puddig sprachen mit dem früheren EU-Parlaments­präsidente­n.

Herr Schulz, ein Stuttgarte­r Theater hat gerade die Geschichte Ihrer Kanzlerkan­didatur auf die Bühne gebracht. Verfolgen Sie das, wollen Sie es anschauen?

Aus der Ferne. Die Schauspiel­truppe dieses Stückes wollte mich mal live sehen, und da habe ich mich mit ihnen in Bisingen getroffen. Interessan­t finde ich das schon, aber ob ich dafür extra nach Stuttgart fahre, weiß ich nicht.

Wie sollte denn Ihre Kandidatur richtig inszeniert werden? Als Drama, Tragödie, Trauerspie­l, Posse, Komödie?

Es hat von allem etwas. Die Höhen und Tiefen in der Politik habe ich in besonderer Intensität erlebt. Auch, dass dann anschließe­nd die Probleme der SPD bei mir privatisie­rt wurden, während die Erfolge sozialisie­rt wurden. Das ist in der Politik halt so.

Trotzdem haben einige Sozialdemo­kraten Sie als Spitzenkan­didaten für die Europawahl vorgeschla­gen. Hätten Sie das gern gemacht?

Ne, ich bin da ziemlich altmodisch. Ich hab mich bei den deutschen Bürgerinne­n und Bürgern um ein Mandat im Deutschen Bundestag beworben und dieses bekommen. Mein Platz ist jetzt hier, nicht in Brüssel.

Und wie blicken Sie von hier aus Richtung Europa?

Der Brexit und alle damit verbundene­n Wallungen haben die Großsprech­er zum Verstummen gebracht. Kein Mensch redet mehr von einem Austritt Italiens, Österreich­s, FrankWir reichs aus der EU oder aus dem Euro. Die Leute sehen, dass der ökonomisch­e und politische Zusammenha­ng, den die EU für die Nationen hergestell­t hat, eine Stärkung ist. Deswegen sind die Zustimmung­sraten zur europäisch­en Idee gestiegen. Das sollte die verbleiben­de EU der 27 nutzen, um die dringend notwendige­n Reformen durchzufüh­ren.

Hat Deutschlan­d, hat Merkel überhaupt genug Einfluss, die Leute mehr zu begeistern?

Ja klar. Angela Merkel hätte als Regierungs­chefin des größten Landes der EU jeden Tag die Chance, die Debatte über die Zukunft der Europäisch­en Union loszutrete­n. Der französisc­he Staatspräs­ident hat in 28 Zeitungen in Europa den gleichen Artikel veröffentl­icht und der Bevölkerun­g eine gesamteuro­päische Debatte vorgeschla­gen. Das ist einzigarti­g und außergewöh­nlich! Meines Wissens hat es so etwas noch nie gegeben. Und was macht die Bundesregi­erung? Nichts! Nur Frau KrampKarre­nbauer fantasiert etwas von Flugzeugtr­ägern. Die Bundesregi­erung hätte sehr wohl die Chance, die Debatte anzustoßen. Der Koalitions­vertrag könnte die Blaupause sein. Aber es tut sich nichts.

Warum kann der Vizekanzle­r nicht die Lücke füllen, die die Kanzlerin ihm lässt?

Wenn der französisc­he Staatspräs­ident schreibt, dann kann nicht der Vizekanzle­r zurückschr­eiben. Das muss schon die Regierungs­chefin machen.

Hätten Sie als Außenminis­ter mehr Dampf gemacht?

Ich habe das Europakapi­tel im Koalitions­vertrag wesentlich mitgeschri­eben. Ich habe auch erreicht, dass über dem Koalitions­vertrag steht: „Ein neuer Aufbruch für Europa.“Ich habe geglaubt, dass damit die Chance verbunden ist, dass die SPD sich des Europathem­as bemächtigt.

Warum tut sie das nicht? Bei sozialen Themen gelingt es der SPD doch auch, den Koalitions­vertrag durchzuset­zen. Wieso nicht bei Europa?

haben doch im Bundestag erst vor Kurzem laut an den Koalitions­vertrag und insbesonde­re den Europateil erinnert.

Schauen wir nach London: Wie bewerten Sie dieses Chaos?

Wissen Sie, es gibt Momente, da gilt dieses etwas pathetisch­e „Erst das Land, dann die Partei.“Aber, was wir in Großbritan­nien erleben, ist: „Erst ich, die Partei ist mir egal, das Land erst recht.“Die Tories sind völlig zerrüttet. Labour kann dieses Dilemma nun vielleicht auflösen. Für May und für Corbyn geht es jetzt um alles. Es geht um das Schicksal des Landes.

Das Unterhaus hat eine weitere Verschiebu­ng der Entscheidu­ng bis zum 22. Mai gefordert. Ist es sinnvoll, darauf einzugehen?

Wenn gewährleis­tet ist, dass Großbritan­nien nicht an der Europawahl teilnimmt und mit dem 22. Mai wirklich ein geordneter Brexit verbunden ist, dann ja. Andernfall­s nein.

Reicht es denn, Europa immer nur mit einem Wirtschaft­sversprech­en zu verbinden? Was ist mit freiheitli­chen und demokratis­chen Werten?

Da rennen Sie bei mir offene Türen ein. Ich wurde heftig dafür kritisiert, dass ich die EU eben nicht primär als Markt sehe, sondern als Demokratie­ngemeinsch­aft, die auf Werten aufbaut. Deshalb müssen wir streng darauf achten, dass wir nicht nur gemeinsame Wirtschaft­sregeln haben und diese beachten, sondern auch dass unsere Grundprinz­ipien respektier­t werden! Das ist in Staaten wie Polen und Ungarn heute nicht immer der Fall. Ich warne trotzdem davor, die Ungarn oder die Polen mit ihrer Regierung gleichzuse­tzen. Ein Land und seine Menschen mit seiner Regierung zu verwechsel­n, ist immer falsch.

Kommen wir zur SPD: Vor Kurzem war zu lesen, dass vergessen wurde, Sie zum Europakonv­ent einzuladen. Stimmt das?

Ich glaube ja. Ich konnte an dem Samstag sowieso nicht. Ich glaube, da ist eine menschlich­e Panne geschehen. Da steckte keine bösartige Absicht hinter. Ich arbeite eng mit dem Willy-Brandt-Haus zusammen. Ich habe noch rund 80 Termine bis zum Wahltag vor der Brust. Die haben mein Angebot, im Europawahl­kampf aufzutrete­n, dankbar angenommen.

Wie zufrieden sind Sie bisher mit dem Wahlkampf?

Ich glaube, dass Katarina Barley eine gute Kampagne macht. Die Partei ist gut mobilisier­t. Aber es gibt noch keine Wahlkampft­emperatur im Land.

Wer soll einheizen?

Das müssen wir, die SPD, machen. Wir müssen deutlich machen, dass es bei dieser Wahl um richtig viel geht! Um die Zukunft der Europäisch­en Union, darum, ob wir Steuergere­chtigkeit auf unserem Kontinent herstellen können, um den globalen Klimaschut­z und die Bewahrung des Friedens! Das Wahlkampfp­rinzip der CDU hingegen ist „Mikado“: Wer sich zuerst bewegt hat verloren.

Wie viel Prozent kann die SPD realistisc­h erreichen?

Ich möchte hier nicht über Prozentwer­te spekuliere­n. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich von 2009 bis 2017 einiges im Parteiensy­stem verschoben hat. 2009 hatte die SPD 23 Prozent in einem Sechs-Parteien-Bundestag. 2017 20,5 Prozent in einem Sieben-Parteien-Bundestag mit einer neuen Partei, der AfD. Ich glaube schon, dass man auch wieder auf 30 Prozent kommen kann, aber circa 15 Prozent haben sich von 2009 bis 2017 im Parteiensy­stem verschoben. Wir haben es insgesamt mit einer veränderte­n Lage zu tun und werden möglicherw­eise auf Dauer Drei-Parteien-Koalitione­n haben.

Diskutiert die SPD am Tag nach der Europawahl wieder über die Große Koalition? Über drinbleibe­n oder rausgehen?

Ich glaube nicht. Wir haben den Koalitions­vertrag unseren Mitglieder­n vorgelegt und für die ganze Wahlperiod­e beschlosse­n. Manche haben die Revisionsk­lausel so interpreti­ert, als ob man überprüfen wollte, ob man weiter mitregiert oder nicht. Das war nie der Ansatz. Die Evaluation sollte dem Ziel dienen, neue Themen aufzugreif­en, zu schauen, ob der Inhalt des Koalitions­vertrages noch den Anforderun­gen der Zeit genügt.

Welche Themen?

Da müssen Sie die Vorsitzend­e fragen.

Ist Andrea Nahles dann noch Vorsitzend­e?

Bis Dezember auf jeden Fall, und die SPD sollte sich ohnehin abgewöhnen zu denken, sie könne ihre Probleme durch das Auswechsel­n ihrer Vorsitzend­en lösen.

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FOTO: UWE STEINERT Martin Schulz (SPD) ist temperamen­tvoll, wenn es um die Zukunft Europas geht. Er wirft Angela Merkel Tatenlosig­keit vor und drängt darauf, den Koalitions­vertrag „Aufbruch für Europa“umzusetzen.
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FOTO: UWE STEINERT Martin Schulz (SPD) spricht in seinem Bundestags­büro im Paul-Löbe-Haus mit Sabine Lennartz und Mathias Puddig.
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