Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
„Im Moment würde ich nicht freiwillig in die Türkei reisen“
Gespräch mit dem Ravensburger Grünen-Politiker Yalcin Bayraktar über das schlechter werdende Verhältnis zur Türkei
RAVENSBURG - Kritiker als angebliche Terroristen zu verfolgen, ist ein Kennzeichen von Diktaturen. In der Türkei werden immer mehr Menschen aus politischen Gründen ins Gefängnis geworfen, darunter auch Deutsche mit oder ohne türkischen Migrationsintergrund. Annette Vincenz unterhielt sich darüber mit Yalcin Bayraktar. Der 39-jährige Deutsche ist Amtsleiter für Migration und Integration des Bodenseekreises und sitzt für die Grünen im Ravensburger Gemeinderat. Außerdem ist er Vorsitzender des „Türkischen Akademiker-Vereins in Ravensburg“(Tavir).
Herr Bayraktar, wann waren Sie das letzte Mal in der Türkei?
Pfingsten 2015. Das war ein Strandurlaub in Antalya.
Seitdem nicht mehr?
Nein.
Sie haben sich schon mehrfach kritisch über den türkischen Präsidenten Erdogan geäußert, zum Beispiel auf Facebook. Haben Sie dabei manchmal ein mulmiges Gefühl?
Ich habe bisher immer versucht, mich nicht zur türkischen Innenpolitik zu äußern. Dass der türkische Staat jetzt aber versucht, die gesellschaftspolitische Lage in Deutschland zu beeinflussen, indem er dazu aufruft, bestimmte Parteien nicht zu wählen, geht mir gegen den Strich. Wenn jemand sagt: Wählt nicht CDU, SPD oder Grüne, bleibt nur noch die AfD. Es gibt tatsächlich einige Türkischstämmige, die bei Facebook Werbung für die AfD machen. Wenn man sich jahrelang in der Integrationsarbeit bemüht, das Demokratieverständnis zu stärken, ist das schon bitter.
Es gibt immer wieder Gerüchte, dass der türkische Geheimdienst MIT gezielt auch Kritiker hierzulande ausspioniert. Ist da Ihrer Meinung nach etwas dran?
Grundsätzlich habe ich Vertrauen in die deutschen Sicherheitsbehörden, auch wenn es – wie bei der türkischen Community insgesamt – nach den NSU-Morden etwas erschüttert ist. Dass Ditib-Zellen (Ditib ist der Dachverband der Moscheevereine in Deutschland, Anm. d. Red.) unterwandert werden oder MIT-Agenten in Hamburg Kurden ausspioniert haben, kann ich mir schon vorstellen, wenn der Verfassungsschutz darauf Hinweise hat.
Der deutsche Schriftsteller Dogan Akhanli wurde sogar in Spanien verhaftet, weil bei Interpol ein Haftbefehl aus der Türkei gegen ihn vorlag. Fährt man da als Regimekritiker mit einem komischen Gefühl in Urlaub?
Eigentlich sehe ich mich nicht als Regimekritiker in dem Sinn, dass ich Opposition in der Türkei mache. Mir geht es um den Lebensmittelpunkt der hier lebenden Exiltürken, der meiner Meinung nach zu wenig deutschlandfixiert und zu sehr auf die Türkei konzentriert ist. Gefahren sehe ich bei Auslandsreisen in andere Länder derzeit nicht, dafür bin ich zu unwichtig. Aber im Moment würde ich nicht freiwillig in die Türkei einreisen, auch wenn ich kein Anhänger der Gülen-Bewegung bin.
Wie ist die Stimmung unter Ihren Angehörigen in der Türkei?
Es gibt eine sehr kritische Haltung gegenüber Deutschland. Das kann an den dortigen Medien liegen, die inzwischen ziemlich gleichgeschaltet sind. Es gibt im Land aber auch eine starke Gegenbewegung zur Regierungspartei AKP, was hier oft übersehen wird.
Wie ist die Stimmung bei Ihren türkischstämmigen Bekannten in Deutschland? Gibt es Streit zwischen Erdogan-Anhängern und -Gegnern in Ravensburg?
Es gibt eine Radikalisierung, eine aggressivere Diskussionskultur. Die türkische Community ist sehr stark gespalten, und es wird Jahre dauern, bis sich das wieder legt. Ich kenne eine Familie, die deswegen total zerstritten ist und nicht mehr miteinander redet. Gut integrierte Türken sind hingegen oft auch total genervt, von ihren deutschen Kollegen oder Nachbarn ständig auf das Thema angesprochen zu werden und sich rechtfertigen zu müssen, auch wenn sie sich gar nicht für Politik interessieren.
Wie sollte sich die deutsche Regierung gegenüber der Türkei verhalten? Darauf drängen, dass die EUBeitrittsverhandlungen sofort abgebrochen werden? Schärfere Reisewarnungen erlassen? Mit Boykott drohen? Oder wieder mehr auf Annäherung setzen?
Puh, ich bin kein Außenpolitiker. Aber ich denke, dass die Menschen in der Türkei, die proeuropäisch denken, nicht alleingelassen werden sollten. Ein Ende der EU-Beitrittsverhandlungen hätte einen starken symbolischen Charakter, würde aber in die falsche Richtung gehen. Wenn man die Verhandlungen abbricht, geht man davon aus, dass nie wieder eine andere Regierung kommen kann, die dann ja wieder Reformen einleiten könnte. Meines Erachtens würden Wirtschaftssanktionen die stärkste Wirkung zeigen und die Menschen am ehesten zum Nachdenken bewegen.
Aber wenn Erdogan tatsächlich wieder die Todesstrafe einführt? Dann wäre doch einer der wichtigsten europäischen Werte, das Recht auf Leben, gefährdet?
Unabhängig von der Frage, dass die Todesstrafe schrecklich und verurteilenswert ist: Wir pflegen doch gute Beziehungen zu vielen Staaten, in denen sie gang und gäbe ist. Da sollte mehr Konsequenz herrschen, gerade auch bei Waffenexporten.
Machen Sie sich Sorgen um die Zukunft?
Dass sich sowohl Migranten als auch Einheimische mit dem demokratischen System in Deutschland identifizieren können, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Nach der Wahl wird man sehen, wie viel Gelder für Programme vor Ort ausgegeben werden können, um diese Mammutaufgabe zu bewältigen. Eigentlich bin ich aber optimistisch.